Die Verfertigung der Welt im Kinderauge

Essay

Autor:
André Schinkel
 

Essay

Die Verfertigung der Welt im Kinderauge. Eine Vorlesung in drei Kapitellen

Ich habe vielleicht dreißig Gedichte für Kinder geschrieben und, wenn es hochkommt, fünf Kindergeschichten. Ich kann Sie beruhigen, ich bin, noch, kein Kinderbuchautor, dafür ist es bisher zuwenig Stoff. Aber ich bin, dessen kann ich Sie versichern, ohne dass ich es gern zugebe, auf dem Weg dorthin, und einmal werde ich vor Ihnen stehen und sagen, ich sei Kinderbuchautor, und Sie vielleicht darauf hinweisen müssen, dass ich auch Lyriker sei, und ein paar Liebesgeschichten geschrieben habe, was Erotisches und was Trauriges, und Ihnen werden die Kindertexte vielleicht genügen und ich werde drauf bestehen und insistieren: „Aber ich habe auch …“ –

Ja, ich gebe es zu, ich schreibe gern weiter traurige Lyrik, und ich sammle für einen Band mit Liebesgeschichten; aber seit einigen Jahren bin ich mit Kindergedichten und Workshops an Schulen unterwegs, mit klopfendem Herzen, flatternder Hose zunächst, bis ich bemerken durfte, dass diese Art Lesungen zum Dankbarsten gehören, das einem begegnet – wenn man eigentlich ein trauriger Lyriker ist, zumal. Und als mich Jürgen Jankofsky ansprach und fragte, ob ich Schulschreiber in Laucha sein möge, sagte ich zu und es kam mir so vor, als könnte ich mir das zutrauen.
Und vielleicht, sagte der Vernunfts-Engel in mir, es könnte was dran sein an der Geschichte, mit Kindern Geschichten zu schreiben, und so wollte ich es tun und tat es, und die Resultate werden im April für Freude und Ruhm sorgen, kleinen Ruhm sicher, in meinem Skriptorium vielleicht nur, das ist besser als nix.


b. Kevin, der Kullerer

Was tun wir, bis es soweit ist? Solange erzähle ich Ihnen von meiner Schulschreiberzeit in Laucha, dem halben Jahr, in dem ich erst nicht da und dann ein aufgeregter Anreger und auch so etwas wie ein Lehrer war, ein paar Stunden die Woche, aber immerhin. Als ich zur ersten Stunde antrat, hatte ich noch die großen, erwartungsvollen Kulleraugen meiner zehn kleinen Schulschreiber samt erwartungsvoller Schuldirektorin imaginiert und nahm mir vor, mich nicht zu blamieren. Ich hatte ein Konzept in der Tasche, nach dem ich eine erste, und sichere, Stunde geben wollte.

Was Schulen betrifft, will ich Ihnen sagen: Freuen Sie sich auf das, was Sie dort erwartet … und seien Sie auf der Hut! Natürlich ging ich noch mit meinem festen Plan, ich hatte ihn mir in der Burgenlandbahn, die mich nach Laucha brachte, nochmal durch den Kopf gehen lassen; natürlich ging ich gefestigt die Treppen zum Sekretariat hinauf; aber bereits im Lehrerzimmer hatte ich eine andere Idee, und alles in meinem Kopf geriet noch einmal durcheinander. Und als ich auf der Schwelle zum Klassenzimmer stand, aus dem mich zehn aufgeregte Viertklässler ansahen, lernte ich eine in der Form mir völlig unbekannte pädagogische Methode kennen: die Schwellentaktik. Ich hatte plötzlich das Thema der Stunde im Kopf, es war ein völlig anderes als das, das ich lange vorbereitet hatte, es hieß „Das Meerschweinchen im Kartoffelsalat“ und war für meine Begriffe ein mehr als rauschender Erfolg.
In der nächsten Stunde las jedes Kind seinen Text vor. Ich war begeistert. Ich hatte neben der thematischen Vorgabe die Aufgabe als Puzzle angelegt, d. h. mit zur Hälfte von mir vorgegebenen, zur anderen Hälfte gemeinsam festgelegten Wörtern, die nicht viel miteinander zu tun hatten und allesamt im Text vorkommen mussten. Wörter wie „Bahnhof“, „Zopfhalter“ oder „Kartoffelnase“ waren dabei, und im Nachhinein staunte ich, an welcher Stelle die Kinder sie auftauchen lassen konnten. Ein gutes Beispiel ist dafür die Geschichte von Celine, einer Schülerin, die immer als Erste fertig war und ein lustig-originelles Bukett in ihren Texten bevorzugt:

Das Meerschweinchen im Kartoffelsalat

Es war einmal ein Meerschweinchen, das wohnte bei einem Jungen namens Rotznase. Das Meerschweinchen hatte schon von Geburt an einen Zopfhalter am Popo und eine Kartoffelnase im Haar. Das Meerschweinchen befreite sich aus dem Käfig, es ging in die Küche, nahm einen Löffel aus der Schublade und spielte Fußball damit. Für den Fußball hatte es eine kleine Kartoffel aus dem Kartoffelsalat genommen. Am nächsten Morgen gingen Rotznase und das Meerschweinchen zum Bahnhof – der Fußboden war erst frisch gewischt, das Meerschweinchen lief vorneweg, es rutschte aus, machte einen Looping und fiel direkt in einen Erdbeer-Shake. Das Meerschweinchen musste für eine Woche ins Krankenhaus. Es kam nach Hause und sagte: „An diesem Tag habe ich viel gelernt, eins davon ist: Geh niemals in einen Bahnhof, wenn gerade frisch gewischt ist!“

Im Text von Larissa starb das Meerschweinchen sogar, nicht aber im Kartoffelsalat, gottlob. In den Texten der Jungs kündigte sich schon kommendes Ungemach an, es ging um Coolness und Fußball; eine der Geschichte war, soweit ich mich entsinne, eine Art Komplettanweisung, wie der ortsansässige Lauchaer Verein in die Fußballgeschichte eingehen könnte. Was mich zudem faszinierte, war ein gewisser, ein burgenländischer Humor in den Geschichten, der über das Humorvolle, das Kindern zueigen ist, zugleich auch als eine Art burgenländischer Ernst gewertet werden kann. Ich war vor allem froh, dass meine fixe Idee so schnell Freunde gefunden hatte, und knetete im Kopf schon intensiv an der nächsten für die folgende Stunde herum.