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Essay
Die Verfertigung der Welt im Kinderauge. Eine Vorlesung in drei Kapitellen
a. Wolkenzirkus Knatterhose
Ich kann Ihnen nun, liebe Freunde der höheren Weihen, das „Wolkenzirkus“-Gedicht nicht ersparen, nicht nur, weil ich hoffe, dass es an dieser Stelle meine Ausführungen schmückt, sondern weil ich nicht zu meinen letzten beiden Werkstätten nach Laucha fahren kann und einem meiner Schulschreiber, Erik, erklären muss, dass wir zwar über Laucha und unsere Arbeit gesprochen haben, nicht aber über jenes Gedicht, dessen pure Nennung bei ihm einen dieser, so ernst und heiter zugleich gemeinten, Viertklässler-Augenrollseufzer entlockt: „Wolkenzirkus Knatterhose!“:
Im Wolkenzirkus Knatterhose
Da fliegt die lose Flatterhose.
Zwölf Lichter flirrn ums Zirkuszelt,
Es zählt bis zehn der Zirkusheld.
Drometiere, Trampelmele
Blöken aus betrunkner Kehle.
Der Affe krietscht und kreischt wie toll,
Der Clown macht sich die Jacke voll.
Der Tiger faucht den Wärter an,
Im Käfig pupt der Pavian.
Und in der Zirkuskuppel drin,
Da schwebt die Wolkentänzerin.
So geht’s im Hause Knatterhos’
Bunt zu, laut und riesengroß.
Die Elefantentanten tröten,
Dem Magier geht’s Kaninchen flöten.
Der Feuerschlucker niest, es kracht,
Das Publikum genießt und lacht.
Der Löwe brüllt, die Taube kackt,
Der Mandrill ist am Hintern nackt.
Die Pferde drehn beim Laufen durch,
Der Leopard quakt wie ein Lurch.
Die Artistenschar hopst, tiriliert,
Die Zirkus-Omi schnieft gerührt.
Das Zirkusklo ist, klar, verstopft,
Und alles teilt sich einen Topf.
Der Zirkuschef Karl Knatterhose
Verkauft ein Kilo Wolkenlose.
Wer weiß, vielleicht gewinnt man nie
In der Wolkenlotterie ...
Am Abend schließt das Flatterhaus
Mit Dschingdibumm, das Licht geht aus.
Das Zebra singt ein Abendlied,
Die Zebrafrau zeigt ihm ‘nen Piep.
Das Warzenschwein zieht’s Nachthemd an
Und rollt zum Schlafen sich zusamm’.
Es singt im Wind die Flatterhose
Im Wolkenzirkus Knatterhose.
Der Kinderpulk geht froh nach Haus,
Es streckt sich die Manegenmaus.
Der Opa schließt die Haustür zu
Und bringt die Kinder bald zur Ruh’.
Die Eule ruft, die Hörnchen knabbern,
Die Kids hört man noch lange plappern.
Sie flüstern, was nicht leicht gelingt,
Vom: Wolkentierschau-Riesending! –
Was Spaß macht, soll man öfter tun,
Drum träumen wir vom Zirkus nun.
Es ist dies, meine Damen und Herren, sicherlich kein Gedicht, das die Welt retten wird, aber das ist nicht beabsichtigt, und wenn es beabsichtigt wäre: auch das wissen wir längst, dass ein Gedicht noch nie dazu geeignet war, die Welt zu retten, und das wird es auch künftig nicht sein. Aber wenn es auch nur für einen Tag die Laune von Erik, Pia, Celine, Celina, Martin, Marvin, Lisa, Kevin, Johann, Larissa gerettet hat, will ich es vorerst zufrieden sein und keine Anklage erheben.
Entstanden ist dieses Gedicht, was man ihm nicht ansieht, aus Angst. Meine Töchter Laura und Janina waren im Winter vor etwa zwei Jahren an ihrer Schule in ein Zirkus-Projekt verwickelt; und der Höhepunkt dieses Unterfangens war eine Vorstellung für alle Familien, samt Fototermin mit Artisten, Hunden und Tauben. Sie finden sie, als Elefanten, Paviane und Zirkusdirektoren verkleidet, in diesem Gedicht wieder. Und der Höhepunkt des Höhepunkts war, als meine Zweitgeborene in der Kuppelnummer in die Spitze der Zeltpyramide schwebte und ernsthaft und beseelt zugleich mit einer Freundin ein paar, meines Erachtens halsbrecherische, Übungen machte.
Ich bin ein zartsinniger und höhenängstlicher Mensch, müssen Sie wissen, und seitdem ich weiß, dass meine löwengeborenen Töchter schwindelfrei und furchtlos sind, ist es mit der Ruhe in meinem Leben einigermaßen vorbei. In dem Moment, als meine Tochter in der Kuppel schwebte und ich zerknittert und besorgt auf meinem Stuhl hockte, tobte das Zelt wie entfesselt, und die Augen der anderen Kinder glänzten wie bei einem schönen Gedicht, und natürlich ging alles gut.
Dieser, für mich, zwiespältige Moment war zugleich die Sekunde, da mir der Anfang meines Gedichtes einfiel. Ich trug seinen Keim noch ein paar Tage bei mir, dann setzte ich mich, es war gar kein fröhlicher Tag, hin und schrieb es in drei Minuten herunter. In meinem Hang zur Wortspielerei wurde aus der Knatterhose eine Flatterhose, in der man seine Wolkenlose unterbringen konnte. „Wer weiß, vielleicht gewinnt man nie / In der Wolkenlotterie …“ Wenn Sie wollen, steckt in diesem Gedicht ein Ringelnatz’scher Ernst und eine Ringelnatz’sche Albernheit zur gleichen Zeit: indem es sich den Freuden der Begeisterung hingibt, feixend und buchstabenverliebt, und aber auch die Tatsache nicht außer Acht lässt, dass es noch etwas anderes gibt als Hanna Montana oder Zach und Cody … oder Dieters vorzeitig verglühte Popsternchen … etwas, zu dem man noch hingehen kann, auf den eigenen Füßen, und Spaß haben an den Möglichkeiten, die im digitalen Zeitalter nicht abgeschafft sind; von den begreifbaren Dingen, die nicht wie ein aufgeblasenes Brötchen im Supermarkt unsres Hirns ruh’n.