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Essay
Unsere Wüstentöchter - Zur Rezeption von Autobiographien naher und ferner Frauen
I
Zwei konträre Beobachtungen zum Anfang: unweit der Berliner Friedrichstraße, in relativer Nähe zu Daniel Libeskinds beeindruckendem Jüdischen Museum, spielen zwei türkischstämmige Jungen, kaum älter als zehn Jahre. Der eine, Größere, reißt den anderen am Ärmel, der fällt, regt sich auf, hebt zu einer Litanei an, der Größere schilt: "Du Opfer!" Und schon ist der andere auf den Beinen und die Rangelei geht richtig los.
Dagegen in München, auf einer Lesung im Colibris -- es geht um ein Buch, das traumatische Kindheitserfahrungen zum Gegenstand hat -- erhebt sich nach dem Szenenapplaus eine Dame mittleren Alters, gestylt im Dutzendstil, und erklärt, es sei ihr auch so gegangen, was da eben vorgelesen wurde, könnte sie aus eigener Erfahrung durchaus bestätigen, wollte aber hinzufügen, daß... Die Dame wird gehört, breitet erlittenes Unrecht aus, spart nicht mit Einblicken in ihr Innenleben, dann folgt Stille, gemurmelte Bestätigung, zaghaftes Händeklatschen. Wahrscheinlich hat die Dame sich mehr erhofft, der Abend geht zu Ende.
Was sich hier in Dichotomien von 'männlich' vs. 'weiblich', 'morgenländisch' vs. 'abendländisch', 'archaisch' vs. 'zivilisiert' darstellt -- und unter diesen jeweiligen Rubriken in gescheiten Leitartikeln erklärt wurde -- ist für das Thema 'Autobiographie' von nicht nur peripherem Interesse. Hier geht es um Strukturmodelle. Das ist zu erläutern.
Avanciertes autobiographisches Erzählen schafft Rollen, die keineswegs transzendental eingenommen, sondern in den sozialen Verkehr eingespeist werden und daraus zu Fortsetzungen drängen -- der Erzähler ist zum Autor seines Lebens geworden, er hat nicht nur einen 'autobiographischen Pakt' (Lejeune) eingelöst, sondern aus seinem Dasein Mehrwert generiert. Eines der besten Beispiele dafür ist die vierbändige Selbstbefragung des französischen Ethnologen Michel Leiris (natürlich ließen sich diese Rollen immer weiter hochschreiben, aber im Leben bleiben die Realisierungsmöglichkeiten begrenzt, ab einem gewissen Level werden sie sogar für weitere autobiographische Projekte irrelevant. Es sei denn, man ist als Autobiograph auch ein Dandy). Doch was für Leiris -- und vermutlich für jede Autobiographie, die einen mehr literarischen als dokumentarischen Anspruch verfolgt -- eher ein Problem aufwarf, daß nämlich der Autor sich mit dem Schreiben seiner Lebensgeschichte vom dargestellten Ich lossagt, den Lebenszusammenhang ob des Trennstrichs im Text auflöst, ist für schlichtere Gemüter -- die das erzählte Ich in der Realität neben sich angekommen wissen möchten -- die Lösung. Für sie bleibt nur die Frage: wo steht man jetzt, und wovon galt es sich zu emanzipieren? Dem aktuellen Ich geht es um seine derzeitige Stellung in der Welt, sie muß, zumal in einer pluralistischen Gesellschaft, fortwährend verteidigt werden. Sie ist immer in Diskussion, kann sich nur durch Diskussion bewähren. Sie zu befestigen heißt, auf eine Argumentation einzuschwören, die alle Zuhörer teilen müssen. Meine erste These lautet: nichts liegt da näher als die Opfergeschichte. Denn Verhinderte und Benachteiligte als 'gleichwertig' anzuerkennen, dazu erzieht man jeden Kindergartenzwerg. Auch wird in frühen Jahren bereits die Opferperspektive eingeübt, weil wir schließlich nicht allein von Kant, sondern auch von John Rawls gelernt haben. Und Deutschland als neue europäische Mittelmacht hält sich auf seine historisch erworbene Empathiefähigkeit einiges zugute. Woran alle Einwände zerbrechen, das ist der Opferstatus, der Rest spielt sich (s.o.) auf den Hinterhöfen der Zivilgesellschaft ab. So wenigstens scheinen die Gleise zu verlaufen, in denen sich die Rezeption -- und um nichts anderes soll es im folgenden gehen -- abspielen könnte.
II
"Jetzt kann ich erzählen, was mir eigentlich passiert ist." Es war nicht immer so. Und es gerinnt auch nicht immer zur 'Erzählung', sondern verschreibt sich oft genug jenem Protokollstil, dessen Form schon offenbart, daß einem etwas 'angetan' wurde. Das Protokoll eines Lebens, von ihm selbst erzählt: unlängst dokumentierte es sich in Interviews der Tagespresse und in Talk-Shows, wenn ein hochbezahlter Eiskunstlauftrainer und ehemaliger Stasi-Spitzel buchstäblich aus der Rolle fällt. "Man hat mich...", "Ich wurde verpflichtet" -- diese Passivkonstruktionen bilden einen nicht abreißenden Lebensfaden, nur kurzzeitig unterbrochen durch eine 'Karriere', die jetzt aussieht wie ein Betriebsunfall und derentwegen der Gast überhaupt auf dem Stuhl sitzen darf. Freilich handelt es sich um die sprachliche Modellierung von Solidaritätserheischung, wir durchschauen es gleich. Der Verweis auf die Jugend färbt den Protokollstil noch 'authentischer', die Regression ist der Preis, den man für die Absolution zahlen muß. Darin werden "sie alle" und "wir" zu unmündigen Kindern -- aber wer vergibt dann und spricht die Sünden los? Strenggenommen niemand, denn dies würde ja gerade den Anspruch auf das eigene Leben und dessen Geschichte voraussetzen, und der ist nicht kommunikabel, weil er die anderen ausschließt -- er ist undemokratisch oder Kunst. Die Evangelisierung der Opfergemeinschaft ist auch die Evangelisierung der Sünder. So wird der berüchtigte erste Stein entweder von allen zugleich geworfen oder von niemand.
Weniger protokollarisch, ausschweifender und doppelbödiger geht es zu in den Texten von und über Frauen, von denen hier die Rede sein soll -- wenngleich meistens ein Interview, also doch wieder ein Protokoll, am Anfang stand. Wie herrlich der Buchmarkt, selbst ein Ort der Opferungen, von Opferreden widerhallt, wird anhand der Titel aus den letzten Jahren ersichtlich: Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen (2005), Hinter goldenen Gittern. Ich wurde im Harem geboren (2001) oder Bei lebendigem Leib (2004). Das im Titel emphatisch geführte Ich findet seine Entsprechung in dem wilden, bisweilen visionären, manchmal auch verschleierten Blick der Frauen, die von den Covers herunteräugen. Dabei scheinen die Gestalter auf einen ambivalenten Faktor zu setzen: die Autorin (trotz besseren Wissens nennen wir sie so), die etwa von Einschüchterungen oder Gewalt innerhalb ihrer islamischen Familie und Gesellschaft berichtet, darf ebenso Mitleid und Empathie hervorrufen wie das von den "Geiz-ist-geil"-Gesetzestafeln altbekannte Erste Gebot aktualisieren: Kauf mich! Besonders interessant ist dies etwa im Falle von Choga Regina Egbemes Haremsbericht: offensichtlich handelt es sich bei der hellhäutigen verschleierten Muslima nicht um die Autorin (diese wurde in Lagos geboren, das bekanntlich die Hauptstadt von Nigeria ist), vielmehr um eine ideale Haremsschönheit, die man(n) gern in seinen Besitz brächte. Jedes Opfer erhält lebenslänglich, davon leben die Strategen des schönen Scheins. An die Gestalter würde man gern die Frage stellen, ob sie nicht insgeheim den Blick aufs Cover mit dem (imaginären) Blick des Täters kurzzuschließen suchen, eine Gefühlsambivalenz erzeugend, die Freuds Trieblehre als Basistheorem für Ein- wie Ausgliederungsvorgänge anwendet. Aber was geschieht so mit der Opferperspektive, mit den Augen der letztlich real mißhandelten Menschen? In ihrer Singularität ist sie gewiß nicht einzunehmen, unser Unvermögen, dies zu bewerkstelligen, ist es auch, was den fortwährenden Anspruch dieserart Literatur aufrecht erhält, die es, zum Teil wenigstens, auf unser schlechtes Gewissen abgesehen hat. Vermutlich 'funktionieren' jene Berichte nicht zuletzt deshalb, weil sie die Übertragung des zwischen den Buchdeckeln verfrachteten Konflikts auf den Leser leisten, der sich nun als Opfer (als das sprechende Ich, das möglichst mit Allerklärungssätzen einschreitet) wie auch als Täter (als derjenige, der die Schöne mit dem Buch aus dem Harem kaufen möchte/soll) zu entdecken hat. Dort könnten, falls die Werke einigermaßen gut geschrieben sind, sich die pädagogisch wertvollen Anteile entfalten: Zivilisierung durch Katharsis. Nur möge man der Versuchung widerstehen, das Cover nach der Lektüre ein weiteres Mal anzuschauen.