Unsere Wüstentöchter

Essay

Autor:
Ulrich van Loyen
 

Essay

Unsere Wüstentöchter - Zur Rezeption von Autobiographien naher und ferner Frauen

Das knappe Verpassen der sexuellen Revolution ist mithin nicht bloß der elterlichen Fürsorge zuzuschreiben. Weiter arbeitet sich die Erzählung ab an Begegnungen mit der Zeitgeschichte und ihren Größen, die zu Ohnmachtsanfällen verleiteten (J.F.K., der unwiderstehliche Beau), durchsetzt mit Kalenderstrecken privaten Lebens (ausgesprochen rudimentär), bevor sie am Küchentisch zwischen Großmutter, Mutter und Kindern Platz nimmt. Ein wirklicher Blick zurück im Zorn ist das Buch nicht; aber der Heldin stößt mehr zu, als daß sie selbst etwas unternimmt, ihr wird etwas in die Wiege gelegt und wieder entnommen, und die Gründe für ihr Handeln werden ihr selbst nicht durchsichtig. Man wäre versucht einzuwenden, dies beruhe auf dem gewählten Fokus -- für sich zu sprechen nur insofern, als daß man einer Generation angehört -- , der darum strictu sensu nicht autobiographisch, sondern soziologisch angelegt sei; indes ist dann zu fragen, warum in einer Geschichte, die doch eine Art Bildungsgeschichte zu sein vorgibt und den langen Weg von der monogamen Dauerbeziehung hin zu alternativen, in der Jugend der Autorin unaussprechbaren Lebensformen anzeigen soll, Individualisierung derart unterbelichtet bleibt. Denn es ergeben sich daraus nicht zuletzt Konsequenzen für die Erzählung als solche: kraft welcher Autorität schreibt Frau Walch über "ihre Zeit" (reicht es aus, eine Zeit überstanden zu haben, damit sie die eigene wird, oder wird sie "meine Zeit", indem ich, sie mir anverwandelnd, handele)? Geht es hier um die Verifizierung des olympischen Prinzips ("Dabeisein ist alles")? Als Erklärung böte sich womöglich an, die Ausweitung (wahlweise: Entleerung) der persönlichen Geschichte hin zu einem Generationenbild dem Verlust jener Schwellenregionen zuzuschreiben, die zwischen Subjekt und Gesellschaft früher als Filter dienten: Großfamilie, Nachbarschaft, kurz: Kontinuität des Milieus. Wahlweise geriert sich der Ausgriff auf die Generation somit als Angriff, als jedes Maß entbehrende Schuldzuweisung, oder als Weichzeichnung, die alles noch putziger erscheinen läßt, als man es damals erlebt haben mag, als Massenspeisung mit Pausenbroten. Dieser Zugriff schwebt stets in der Gefahr, die Fremdheitsressourcen der eigenen Lebenswelt aufzuzehren -- weil einem alles fremd war und dadurch wiederum nichts -- und schnurstracks Deutungshoheit zu gewinnen, die ablesbar ist am Kopfnicken der Umstehenden: "Ja so war's", "So ist es mir auch ergangen." Das funktioniert aber einzig unter Zuhilfenahme der Semantik des Opfers, weil individuelles Handeln das Selektieren von Optionen beinhaltet, die den Konnex von Ich und Gruppe an jeder Stelle neu durchschneiden und neu herstellen. Das wären die Autobiographien der Schröders, Schmidts und Joschka Fischers (nebenbei: Der lange Lauf zu mir selbst firmiert bei Amazon.de unter "Sportlerbiographie".) Wäre es schließlich vermessen zu behaupten, daß die Eigentümlichkeit des Generationenporträts die Opferung des Selbst einschließt, und daß dieses Selbstopfer mit dem Opfer korrespondiert, welches wiederum von der einzelnen Frau ihrer Familie, den Ambitionen der Eltern und Ehemänner gegenüber dargebracht wurde (ob real oder symbolisch, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle: Fakt ist, daß es die Konstitution des Selbstbildes bestimmt, weil die Möglichkeit, von sich zu erzählen, nur um diesen Preis zu haben ist)? Geht man diesen Schritt, so ergibt sich der Brückenschlag zu den individuellen Schicksalen der verfolgten Frauen von selbst, die so gern gelesen werden. Darin droht dem autobiographischen Ich in der Regel die (nicht bloß symbolische) Auslöschung, die Vernichtung durch despotische Familienoberhäupter oder eine archaische Struktur; das Ich entkommt und leistet anschließend die Selbstaufgabe als Hin-Gabe (Mutter-Sein, Gattin-Sein) im Westen. Ein Teil dessen, was das Ich einmal retten wollte -- in den seltensten Fällen erzählen die Autorinnen von frühen Bemühungen, in die heile Welt der Europäischen Union oder Nordamerikas aufzubrechen, eigentlich wollen sie in ihrem angespannten Umfeld verbleiben -- geht für immer verloren, und die Individualität im Westen ist nichts als die der Erinnerung, deren Einzigartigkeit allein der Bücherschrank als Privateigentum garantiert. In dieser Weise wird aus den Frauen und Mädchen, herbeigeströmt aus aller Herren Länder, eingereist unter falschem Namen, Geburtsdatum und Familienstand, wiederum eine 'Generation' -- die der Migrantinnen der letzten Jahrtausendwende (Vermutlich ist es das dominante Konzept der 'Generation' selbst, daß die Erzählung der Opfer zugunsten von Opfererzählungen verhindert; es streicht jene Intimsphäre fort, in der sich Lebensgeschichten ausbreiten könnten, in der es tatsächlich Verunsicherung und damit Verständnis gäbe. Die 'Selbstethnologisierung' der Rezipienten, unabdingbar für jede Erkenntnis des kulturell Anderen, ist von vornherein unmöglich). Dafür, daß von der Exterritorialität der Migrantinnen nichts haften bleibt, sorgen ihre Auftritte, ihre mediale Präsenz: ihr Fremdheitsanspruch geht unter in den wabernden Feiern der Multikulturalität, mutiert zum Tauschobjekt, das in frauenbewegten Kreisen zirkuliert. Willkommen im Reich der Anthropophagen.

IV
Es ist dämmrig geworden. Schlagen wir den Bogen zurück zu den zwei spielenden Jungen 'mit Migrationshintergrund' unweit der Berliner Friedrichstraße. Dort sorgt die Insinuation, jemand wolle sich durch die Qualifizierung als 'Opfer' einen Vorteil verschaffen, für die Fortsetzung einer Rauferei, weil diese Bezeichnung keiner auf sich sitzen lassen will. Ihr wird zuwider gehandelt im Namen der Gerechtigkeit sowie des Strebens, nicht als Objekt der Fürsorge auf dem harten Boden der Realität auszubluten. Damit untergraben die Jungen das Bild, das sich -- aus ihrer Perspektive -- die anderen von ihnen formen; sie suchen den Wettbewerb nicht bloß innerhalb ihrer nach welchen Regeln auch immer gestalteten Randsozietät, sondern in der Mehrheitsgesellschaft. Mit etwas Glück werden sie über sich einmal Geschichten erzählen, die viel weniger nach Berlin klingen als vielmehr nach Harlem -- und etwas von diesem Glück wird auch auf uns abstrahlen. Auch in diesem Sinn ist die Westerweiterung des Ostens nur zu begrüßen: Ex oriente lux.

 

erschien als Originalbeitrag bei parapluie


 

zurück