Kolumne

Seitenwechsel [1] Kathrin Schadt

Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag, Start: Montag 1. Juli 2019, machen sich fünf Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, essen, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt etc. Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Dabei geht es um die Frage, ob es, seitdem die ganze Welt vor der Haustür zu liegen scheint, also: ob und wie es angesichts der uns abhandengekommenen Ferne und angesichts der Globalisierung möglich ist, zeitgleich an sehr verschiedenen Orten und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven etwas entstehen zu lassen, das heimisch macht, jenseits länder- und gedankenbezogener Trennungslinien. Wie kann das aussehen? Es geht um die Suche nach einer Form, mit der sich die verlorene Distanz wiederentdecken lässt. Und es geht darum, ob und wie Nähe sich dadurch neu definieren lässt.

 

Barcelona, Montag 1. Juli 2019

 Frühmorgens in Barcelona in der alten Schmiede. Der Milchkaffee auf dem Schreibtisch, meine Träne, wie sie damals in Argentinien meine Art Kaffee zu trinken nannten, „una lagrima, weil in einen Becher heiße Milch eine Träne Kaffee gegossen wird. Wie erstaunt ich war, als ich dort lebte, dass es ein Land gab, dass für meinen Kaffee ein Wort gefunden hatte, während ich überall sonst immer endlos erklären muss und dennoch das Falsche serviert bekomme. Argentinien hatte immer für alles diese treffsicheren Namen, überraschende, oft lang gesuchte, exakte Bilder, transportiert auf diesem Beet ihrer Schsch-Laute. Argentinien, Sehnsuchtsort. Der retrospektive Blick durch das meterhohe Schmiedetor jetzt hier in Barcelona. Auf der sommerheißen Carrer Nou de la Rambla gähnen schon am Morgen Kaugummis an Schuhsohlen und katalanischen Kindern rieselt der Sand vom Wochenende aus den Hosentaschen. Auf meiner Schulter Tapatoc, natürlich ist auch er Argentinier, wie sonst, Findelkind, verkrüppelter Papagei, würde er Holzbein und Augenklappe tragen, es würde nicht wundern. Stundenlang sitzt er dort, während ich schreibe, als wäre ich die Palme, auf der er nistet, als hätte er mich, statt ich ihn gefunden, erobert, wer´s findet, dem gehört´s, so wandert er von einem Ohr zum anderen, putzt sein Gefieder und kreischt beleidigt, wenn ich wage ihn hinunter zu setzen. Das Geschrei ist ein Problem, immer wieder ertappe ich mich, wie ich ihn meinerseits über den Schreibtisch hinweg in seinem Käfig anbrülle, endlich den Schnabel zu halten. Dabei ist das nur seine Art zu kommunizieren, er kann es nicht anders, und meine verzweifelten Schreie nach Ruhe wiederum versteht er nicht. Mein Hörsturz kurz nach seinem Einzug – ich die stelle die waghalsige Vermutung, dass er seinen Teil dazu beigetragen hat. Weswegen es Momente gab, in denen ich dachte, ich müsste ihn weggeben, wegen der Ohren, wegen der Lautstärke, irgendwann muss auch mal Schluss sein, verflixtes Federvieh, ich konnte Vögel sowieso nie leiden! Und dann drückt er sich katzengleich in meine Handhöhle und lässt sich den Kopf von mir kraulen, nur von mir und niemand sonst. Legt seinen Schnabel an meine Wange und verharrt einen zarten Augenblick. Krabbelt im Winter meine Strickjacke hinauf und friemelt sich von unten unter meinen Schal, bleibt dort wie in einer Hängematte liegen, während ich schreibe. Und ich weiß, niemals könnte ich ihm die Freundschaft kündigen und noch viel weniger meine Loyalität. Tapatoc ist ein argentinischer Mönchssittich, dem Krallen, Schnabel und Flugflügel nicht nur gestutzt, sondern amputiert wurden. Ich fand ihn im Montjuïc in Barcelona, denn nicht nur wurde er verstümmelt, sondern auch ausgesetzt (vermutlich, weil er zu laut war, verständlicherweise!). Er lebt nun seit zwei Jahren bei mir und ich glaube, ich bin ziemlich nett zu ihm. Er hüpft die meiste Zeit frei in der Schmiede herum und nervt pickenderweise alle, vor allem die Hündin. Und es ist ganz erstaunlich, wie dieses hundert Gramm schwere Dings jede meiner Stimmungen sofort erspürt. Bin ich schlecht gelaunt, geht er in Habachtstellung und lässt sich nicht mehr berühren. Bin ich gereizt oder schenke ihm weniger Aufmerksamkeit, beißt er mich unterschiedslos zu einem Fremden fest in die Hand. So sehr er mir vertraut, so sehr hat er gelernt, mir zu misstrauen - seinem Versorger, Glücks- und Leidbringer, der mein Vorgänger gewesen schien. Ich finde dieses kleine Wesen ganz überaus enorm. Tapatoc, mein kleines feines Totem. Ich überfliege mit ihm wie jeden Morgen die Zeitung, was er als Ungeheuerlichkeit ablehnt, er versucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, er klettert auf den Schreibtisch und latscht mit seinen verkrüppelten Füßchen, kleinen Fäustchen ohne Krallen, über die Seiten. Ich wische ihn vom jeweiligen Artikel, was mit einem Biss kommentiert wird. Plötzlich stolpere ich über eine Notiz. Ich bleibe daran hängen und mein Tag beginnt sich an dieser Notiz, anders als geplant, zu entfalten. Sie dringt in mich, wie eine Melodie, die einem bekannt vorkommt, wie ein Geruch, der einen an etwas erinnert, ein Wort, dass man schon lange gesucht hast. Der Artikel erzählt vom 52-Hertz-Wal, dem einzigen Wal der in dieser Frequenz singt, alle anderen Wale singen tiefer. Er wird auch der einsamste Wal der Welt genannt, weil er trotz seiner Rufe nicht seinesgleichen findet. Seit zwei Jahrzehnten durchkreuzt er den Pazifik, seine Gesänge werden von Forschern gehört, aber nicht von Artgenossen. Es gibt nur diesen einen 52-Hertz-Wal. Kein anderer antwortet ihm. Ich beginne mehr über ihn zu lesen, ich recherchiere und dann räume ich den Schreibtisch und anstatt mich an meinen Roman zu setzen, beginne ich ein Gedicht. Denn ich weiß es beim Lesen dieser Notiz gleich. Ich verstehe es sofort. Der Wal und ich, wir schwimmen beide im selben Meer, allein. Wir senden Signale auf unterschiedlichen Kanälen, die niemand hören kann. Aber anstatt irgendwann frustriert das Funken einzustellen, funkeln wir trotzdem immer weiter. Und so antworte ich dem Wal. Mit meinem Gesang. In meiner Frequenz. Lieber einsamster Wal der Welt: jetzt sind wir schon zu zweit.

 

***

(52 hertzen)
für dich und meinen bruder philipp

 

ich atme aus 52 hertzen
auf meinem spektrum tanze nur ich
zehenspitzen farbweise in den regenbogen getaucht
das atmen der anderen atmet sich unter mir aus
die tonleiter steigen wir niemals gemeinsam hinauf
wir singen auf anderen signaturen
und ich jaule dabei das gespenstige lied einer tiefgründigen tuba
den mond vielleicht an
die sterne mit sicherheit
mit der regelmäßigkeit eines metronoms
schlägt mein rufen in wellenbewegungen aus
und auf dem grund meine wanderung fern eurer präsenz
ich kann eurem klang nicht folgen aber tanze nur einen atemschlag von euch entfernt
ich nutze dabei die wege der einen zu den zeiten
der anderen
ich habe gehört wie eure rufe sich finden
mein lied aber kenne nur ich
ich singe in e i n z e l s p r a c h e rufe ich
hier draußen hier
draußen bin doch auch ich
es antwortet die weite blau schimmernd tief eine see
ich stimme mich tiefer jahre um jahr gleich eurem ruf
um euren ton zu treffen üb ich dekaden
es bleibt aber ewig nur die berührung des wassers auf
meiner glatten haut
ein spiegel gehalten in die sternklare welt sucht
seinesgleichen
während sich in ihm nur die unendlichkeit fortschreibt
bin ich taub weil ich nicht eure sprache spreche?
oder bin ich ein zwischen euch sein
vielleicht bin ich die letzte meiner art der ihr nicht begegnen wollt
verortet auf der frequenz vergangener tage
oder zukunftsmusik
vielleicht war ich schon immer da
und werde es immer sein
euer echo vielleicht im weltall
das ihr nicht hören könnt
und dennoch
ist jeder
für sich allein in diesem überfüllten ozean
verwandelt sich die einsamkeit aber zu etwas sichtbarem
und wenn mir die luft ausgeht suche ich dessen oberfläche und atme aus
denn trotzdem ich jahrzehnte unbeantwortete hymnen in das kalte meer des pazifiks brülle
singe ich immer weiter
das leben ist das kühle wasser
das über jeder rückenflosse bricht

 

 

***Erschienen in Wortschau, Ausgabe 34, Oktober 2019, Mein Tier, mein Wildtier, mein Einhorn. Herausgegeben von Johanna Hansen & Wolfgang Allinger. Autor*innen dieser Ausgabe: Sascha Kokot, Astrid Nischkauer, Harald Kappel, Esther Andradi, Michael Bauer, Achim Raven, Judith Sombray, Andreas Hutt, Sabine Göttel, Johanna Hansen, Wolf Senff, Jan-Erik Grebe, Bess Dreyer, Tom de Toys, Jörg Kleemann, Manfred Ach, Patrick Wilden, Stan Lafleur, Michael Hillen, Bernd Lüttgerding, Mechthild Hagemann, Jens Stittgen, Wolfgang Allinger, Kathrin Schadt, Gundega Repše, James C Hopkins, David Oates. Hier bestellen!

 

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