Seitenwechsel [2] Gundega Repše
Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag, Start: Montag 1. Juli 2019, machen sich fünf Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, essen, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt etc. Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Dabei geht es um die Frage, ob es, seitdem die ganze Welt vor der Haustür zu liegen scheint, also: ob und wie es angesichts der uns abhandengekommenen Ferne und angesichts der Globalisierung möglich ist, zeitgleich an sehr verschiedenen Orten und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven etwas entstehen zu lassen, das heimisch macht, jenseits länder- und gedankenbezogener Trennungslinien. Wie kann das aussehen? Es geht um die Suche nach einer Form, mit der sich die verlorene Distanz wiederentdecken lässt. Und es geht darum, ob und wie Nähe sich dadurch neu definieren lässt.
Riga, Montag, 1. Juli 2019, aus dem Lettischen von Nicole Nau
Gundega Repše 5:30
Südlettland. Ein zartrosa Morgennebel. Silberne Kornfelder. Ein Hirsch röhrt ganz nah im Gebüsch. Frösche quaken. Die Linden blühen schon, aber dieses Jahr tun sie es still und sehnsüchtig – es gibt keine Bienen. Letzten Sommer noch dröhnte und summte das üppige Laubwerk, und ich saß darunter wie in einer Kapelle.
8:30
Auf dem Weg nach Riga. Nach langem Warten bin ich an der Reihe, das geheime Archiv im Zentrum für die Folgen des Totalitarismus einzusehen. Seitdem letztes Weihnachten die sogenannten „KGB-Säcke“ mit den eher kurzen in Lettland verbliebenen Namenslisten von Mitarbeitern und Informanten geöffnet und im Internet veröffentlicht wurden, gehen sich mein Privatleben und mein Leben als Schriftstellerin gegenseitig an die Gurgel.
In den Listen finde ich meinen ersten Ehemann. Das angezeigte Datum der Anwerbung fällt in eine Zeit, in der wir schon zwei oder sogar drei Jahre eigentlich geschieden sind. Dank den Lebensumständen der Sowjetzeit und dem pathologischen Platz, den Menschen in diesem System hatten, verbrachten wir jedoch 18 Jahre unter demselben Dach. Mein Zimmer in der Gemeinschaftswohnung (das ehemalige Wohnzimmer) war immer gedrängt voll mit Menschen. Junge Schriftsteller, Künstler, Musiker, Philologen, Journalisten gingen dort aus und ein, es dampfte regelrecht vor Kreativität. Das dämpfte die Wachsamkeit, die Vorsicht vor möglichen Informanten inmitten der buntgemischten Gesellschaft. Hatte mein Exmann wirklich solche Rachegelüste, dass er deswegen nicht aus meinem Zimmer auszog, weil es eine für die Staatssicherheit interessante und reich sprudelnde Quelle war? Ich hoffe sehr, das heute herauszufinden. Ganz bald. Keine Ahnung, was ich mit der erlangten Einsicht anfangen werde. Vielleicht wird sie meine seit dreißig Jahren bestehenden Schuldgefühle ihm gegenüber endgültig tilgen.
11:00
Riga ist halb leer. Ein großer Teil ist auf dem Land, am Meer, eingehüllt in Urlaubsillusionen, ein größerer Teil ist ausgewandert. Die Axt der Einsamkeit in jedem Viertel. Geh halt arbeiten!
14:00
Meine Kopfschmerzen lassen nicht nach. Für mich ist der Stress eine Axt.
In dem von der lettischen Politik hervorgebrachten System fühlt sich jeder, der die Wahrheit herausfinden will, wie ein Wüstenbewohner, der in die Flora und Fauna des Dschungels hineingerät. Im Büro der Wahrheit bekomme ich Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Staatssicherheit nur einen einzigen Bericht über mich hat. Es ist nicht möglich zu erfahren, ob den mein Exmann geschrieben hat. Eine Angestellte des Büros gibt mir zu verstehen, dass offizielle und informelle Mitarbeiter überall sind, doch die wahren Sachverhalte werden wir nie in Erfahrung bringen können. Die erdrückende Mehrheit der lettischen Öffentlichkeit will die Wahrheit nicht und hält eher den für geisteskrank, der sie suchen geht. Die Journalisten versuchen größtenteils, die moralische Verkrüppelung der Informanten zu trivialisieren. Die Opfer schweigen. Das System funktioniert weiterhin, der Staat schwächelt.
16:00
Ein Glas Wein und Mozart. Banale Therapie.
Spaziergang mit dem Hund durch die Innenhöfe der Mehrfamilienhäuser. Krähen und Möwen haben den Inhalt der Müllcontainer verstreut, Plastiktüten wehen im Sommerwind wie die Vögel der Inspiration zukünftiger Lyriker. Auf den Bänken unter den verblühten Fliederbüschen trinken junge Männer in Trainingsanzügen den Schnaps der Arbeitslosen. Der Hund zieht mich entschieden um die Ecke in einen anderen Abschnitt, in dem Omas Kinderwagen schieben. Er kontrolliert sie der Reihe nach, prüft, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist.
18:00
Ich lese die Texte der vergangenen Tage durch. Der Roman „Dünne Luft“ hätte spätestens letzten Sommer fertig sein sollen. Noch nie hat meine Prokrastination solche Ausmaße angenommen. Der Satan der Motivation beißt mich ins Herz, und der Schmerz hallt im Gehirn wider. Wofür?! Ich weiß doch, dass es der Text ist, der mich dem existentiellen Horror und dem tierischen Fatalismus enthebt.
20:00
Ich koche eine Thermoskanne Tee aus frischer Minze und schalte das Telefon ab.
23:00
Eine der Hauptpersonen in meinem Roman muss doch sterben. Keine Gnade.
24:00
Ich schalte die Welt wieder zu. Unbeantwortete Anrufe. Unbeantwortete Fragen. Vielleicht kommen die Antworten im Schlaf.
***Erschienen in Wortschau, Ausgabe 34, Oktober 2019, Mein Tier, mein Wildtier, mein Einhorn. Herausgegeben von Johanna Hansen & Wolfgang Allinger. Autor*innen dieser Ausgabe: Sascha Kokot, Astrid Nischkauer, Harald Kappel, Esther Andradi, Michael Bauer, Achim Raven, Judith Sombray, Andreas Hutt, Sabine Göttel, Johanna Hansen, Wolf Senff, Jan-Erik Grebe, Bess Dreyer, Tom de Toys, Jörg Kleemann, Manfred Ach, Patrick Wilden, Stan Lafleur, Michael Hillen, Bernd Lüttgerding, Mechthild Hagemann, Jens Stittgen, Wolfgang Allinger, Kathrin Schadt, Gundega Repše, James C Hopkins, David Oates. Hier bestellen!
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