Dichtertotenbriefe

Briefe an K wie Kurzeck

Mechthild Curtius schreibt an Peter Kurzeck

Lieber Peter. Soeben bin die durch die Leerbachstraße gegangen und habe Sträucher mit Schneebeeren gesucht, Zweige nach Hause genommen, die ich dir ins Grab werfen sollte, wollte, zusammen mit der weiß-rot geäderten Amaryllis, wie ich sie in Bonn dem Elias Canetti geschenkt habe, und er hat gesagt, die Blume müsste doch ich Ihnen schenken. Weil sie von Zwiebel bis Blüte ein Sinnbild für Dichtung und Phantasie ist,   hat der Maler Philipp Otto Runge diese Blume gemalt und dazu erklärend geschrieben. Kunst und Dichtung in der Deutschen Romantik, das ist unser erstes Seminar in Marburg 1960 gewesen, mein erstes Referat war das über Runge und mein Ehemann Heribert Schoener machte das Co-Referat über Caspar David Friedrich. Aus Westfalen zum Studium hatten wir unsere Hochzeitsreise nach Marburg gemacht. Staufenberg liegt zwischen Gießen und Marburg, so ist diese Stadt immer wieder in unseren Gesprächen aufgetaucht, zumal deine Tochter Karina in Gießen, meine Tochter Birgitta und mein Sohn Boris in Marburg wohnen. Nichts vergessen, weil deinen Wahlheimat Staufenberg nahe Marburg ist, das meine Wahlheimat wurde, sind wir oft in Erinnerungen über die Kopfsteinpflaster gegangen.

Während wir ein, zweimal in der Woche durch Frankfurt gingen, länger bist du dort, ich seit 1976, im Jahr zuvor das Suhrkamp-Buch "Theorien des künstlerischen Produktivität". Seit vier Uhr, sieben Uhr morgens haben wir geschrieben, gehend, sprechen wir genau über solche Rätsel: Wie verwandelt sich die Wirklichkeit via Imaginatio in eine Erzählung, einen Roman? Erinnern zu Zweit, das schafft Nähe. Kein Ding ohne Vergangenheit im eigenen Kopf. Anders als mein Maler, der lange sitzt und schaut und schweigt, sehen wir Schreiber auch viel und genau, aber bald sind wir in Erinnerungen, um Geschichten zu spinnen in eigenen Hinterstirnbildern, sehen die Wirklichkeit hier und da, schwenken wieder ab ins Umformen, Erfinden, später Schreiben. Wahrnehmen, Sehen, Spüren. Große Dinge und kleine: Eine Hausfassade, einen Baum, einen dünnen, im Herbstwind bebenden Zweig mit ein, zwei, vier weißen, glasigen Beeren, erbsengroß. Sträucher hinter den Gusseisen-Zäunen der Gärten vor Jugendstil- oder Gründerjahrhäusern. Schneebeeren heißen sie, nein Knallerbsen  - haben wir uns über Wörter gestritten wie oft, über Sätze, wie sagt man was, wie sehen wir, wie schildern. Schön ist das und nur mit wenigen Dichtern zu machen. Zuletzt haben wir wie zwei Kinder jeder eine weiße pralle Kugel auf das Pflaster geworfen, draufgetreten, dass sie knallend zerplatzten. Ich heftig, du zögernd, so sind wir. Hunderte von Tagen und Stunden, sind wir, du und ich, ein oder zweimal die Woche, immer mittags, von meiner Wohnung am Westendrand zwischen Villen und alten Vorgärten mit vielen Sträuchern und Bäumen bis zum Opernplatz gegangen, haben im Operncafé einen Espresso getrunken oder um die Ecke in der Freßgass - vor dem Café Schwille im Sommer, hinter den Glasscheiben im Winter. Meist hast du geredet, muezzzin-monoton, geradeaus guckend, weil das innen hinein ist. Fast immer hat das so angefangen: du rufst aus einer Telefonzelle an, ich höre hinter deiner hastigen hellen Stimme die Geräusche der Hauptwache oder die quietschende Straßenbahn im Nordend, sagst, du kommst vorbei. Ein Romanschreiber macht nach vielen Stunden eine Pause, schreibt gehend und sprechend seinen Roman weiter. Die ungeduldige Erzählerin hat seit vier Uhr morgens eine Geschichte fertig, sie ist es auch, und es ist gut, dass Peter sie zum Sehen und Gehen bewegen kann; denn er ist ebenso spannend wie ihre leider oft kriminalistischen Geschichten. Die sie selbst überraschen. Wie beide gehen und sehen, immer wieder weisen wir uns auf eine Jugendstilblüte hin, etwa am lila Hausgiebel meiner Steuerberaterin Rosenblatt, auf den dreimal geknickten Ast einer alten Magnolie, deren Früchte wie gespaltene Tannenzapfen aussehen.

Das hat es in unseren Dörfern nicht gegeben, also schauen wir weiter, aber dann kommt der Vorgarten mit Rittersporn, und wir sehen unsere Dorfgärten vor uns, ich meine im westfälischen Jürmke oder im Kloster Marienthal an der Neiße, im Schulgarten, eine Stunde ostwärts, seit 1945 Polen, du im hessischen Staufenberg - im Böhmischen kaum, vier Jahre jünger, siehst du weniger, denn drei Jahre sind zu wenig zum Erinnern, das nur stückweise aufkommt. Aber dass ein früh einsetzendes Gedächtnis - sehr gut bleibendes - Voraussetzung zum Schriftstellerberuf ist, habe ich zu oft beobachtet.

Von der Tochter Karina hast du, Peter, ungleich öfter als von deinen Freundinnen gesprochen, dass es kaum einen anderen Dichter gab in deiner Welt als den Peter, hat ihnen wehgetan. Mir Fremden, das Ästhetische Erforschenden auch, zeitweilig. Von den Reisen ins Waldviertel hast du oft gesprochen, auf den Spuren des Adalbert Stifter sind wir beide virtuell, imaginierend, ins Waldviertel gefahren, nahe Böhmen, nahe der Oberlausitz. Später, als die Grenzen fortwaren, Olaf und ich auf seinen und deinen Spuren. Ins gleiche Gasthaus wie du. Eine Fotografie hängt im Computerzimmer, Mechthild vor einer Sonnentür in Freistadt.

Wie es angefangen hat. Wir waren in den achtziger Jahren beide etwa gleich "berühmt", in literarischen Szenen. Examina sind nur für die Universitäten gut, die anderen fürchten oder hassen uns. Die die Venia legendi für eine sicherlich gefährliche und unanständige Krankheit halten, venerisch oder so, die sind noch am liebsten zu uns. Der Peter ist schüchtern, sagte mir jemand. Mach du den Anfang. Mal wieder. Also gehe ich in die Romanfabrik und spreche ihn an. Wir reden miteinander. Ohne Umschweife sind wir dann Freunde, Kollegen ohne Neid, treffen uns hier und da, vor allem laufen wir stundenlang, das konnten wir damals alle beide. Wie im antiken Griechenland, umhergehend, am besten denken. Gemeinsam zu Lesungen gefahren, nach Marburg, nach Limburg, immer mit der Eisenbahn, dich in deinen Stadtschreibereien besucht, mit der Freundin Christine im Auto in die Pfalz, sie hatte sich in dich verliebt, eine so zarte, schöne Wissenschaftlerin hättest du als Freundin haben können, Blödkopp, in Edenkoben hast du sie nicht einmal bemerkt. 1989. Vor fünfzwanzig Jahren. Viertel Jahrhundert.

Immer wieder hast du, wenn du nach Frankfurt kamst, von deinen provençalischen Morgenspaziergängen gesprochen, geschildert mit solch einem kleinen Lächeln wie mein Vater, wenn er von seiner Kinderheimat erzählt hat. Gegen deinen Willen, denn wir beide haben über Krankheit nie sprechen wollen, habe ich dich einmal besucht, in die Klinik gezwungen, die verwunderte Schwester stopft die Blumen in eine grüne, dreckige Vase, Steinfurter Freilandrosen, denn wegen der Landschaft sollten es Rosen aus der Wetterau sein. Dann bist du doch im weißen Krankenhaushemd, eine Hand um den metalligen Ständer mit der Infusion gekrampft, mit der anderen gestikulierend, den langen Gang rauf und runter gegangen, ich wie ein Hündchen nebenher, hast erzählt und erzählt, wie immer einen Roman, laufend, geschildert: Stille, außer einem Weinbauern noch niemand wach, Bonjour sagen, staubige Rinne im Gras ist der Weg, schlängelt sich durch Macciagehölz, Duft nach Lavendel, Thymian, Zistrosenrosen mit gelbweißen Blüten, Wolken im freien Feld, dusterer unter Bäumen, Sonne und Himmel durch Blätterdach gefiltert, kleine Töne fallender Blätter, raschelnder Blätter, Eidechsen huschen vor den Füßen ins Kraut. Roten Fliegenpilz entdeckt. Einen eingesteckt. Qui. So ist die Ardèche. Anders, aber bei den Vulkanen sieht es aus – auch "hessisch".

Elias Canetti schreibt vom Triumph des Überlebenden, das kenne ich nicht, sondern: sich zu schämen. Am Mittwoch, 4. Dezember, dreizehn Uhr, habe ich erfahren, dass wir in derselben Sankt Katharinen-Klinik gelegen haben, du bist dort gestorben, ich entlassen! Nicht davon gewusst. Vorgestern nach der Schmerz-Therapie in der Neuro-Chirurgie, auf der Nachbar-Abteilung, "Neurologie, wo die Schlaganfälle liegen", nach dem berühmten Dichter Peter Kurzeck, der hier gestorben sei, gefragt. Keiner hat davon gewusst. Jeder lebt in seinen eigenen Welten. In der medizinischen sind Poeten "Fälle". Neidisch bin ich, wenn die Schmerzen wieder wie Kolik krampfen und Wehen. Das kommt vom Balzac-Jahrzehnt, zwanzig Stunden schreiben, zwanzig Seiten am Tag. Keine Zeit für Verlagskram. Später. Später. Zähne zusammenbeißend weiterschreiben. Entschieden. Weiterleben? Wie lange? Wie? Letzte Aufgabe, alle Erzählungen versorgen. Sie sollen überleben.

Viermal operiert, immer die wieder gerade laufenden, hinkenden Gesundenden bemerkt, gesprochen, gestern wieder ein hochgewachsener Scheich im weiß-goldenen Gewand aus Äpypten beim Senior-Dr. Fouad Leheta, mit einem Bodyguard im schwarzen Maßanzug spreche ich englisch, gutes Queens-English. Damals war es eine Prinzessin, sie kam im Rollstuhl, ich ohnmächtig vor Schmerz liegend. Zwei Tage später gingen wir, wie lineal-verschluckt aufrecht, über den Gang, sprachen vorsichtig English. Aber dass in einer Klinik wie dieser nebenan einer stirbt. Keiner weiß. Peter schrieb den Roman "Keiner stirbt". Assoziations-Wahn gehört zum Beruf.

Gestern suche ich ein Buch als Geschenk, greife nach Peter Kurzecks Romanen und finde jene Widmung! Meine Erinnerung an eine wort- und klanggeprägte Nähe ist keine literarische Rückwärts-Übertreibung!

Widmung von Peter Kurzeck

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