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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Erfahrungs(ver)suche in Adam Zagajewskis Lyrik

Hamburg

Dichter sind Vorsokratiker. Sie verstehen nichts.
Aufmerksam lauschen sie, was die breiten Flüsse der Ebenen flüstern.
Sie bewundern den Flug der Vögel, die Ruhe der Vorstadtgärten
und die Schnellzüge, die atemlos dahinjagen.

Es gibt wenig von Adam Zagajewski, das nicht empfehlen würde. Einerseits die Gedichte, in „Mystik für Anfänger“ und „Die Wiesen von Burgund“ und besonders in „Unsichtbare Hand“, aber er ist auch einer der besten (wenn auch nicht gerade progressivsten) Essayisten, die ich kenne, wovon sowohl seine Texte aus dem Band „Verteidigung der Leidenschaft“ als auch das Tagebuch „Die kleine Ewigkeit der Kunst“ zeugen.

Jorge Luis Borges sagte einmal, dass alle Menschen sich in Platoniker und Aristoteliker einteilen lassen – wenn dem so wäre, müsste man Zagajewski den Platonikern zuordnen. Er wäre allerdings ein Platoniker, dem die Kunst nicht als nutzloses Abbild der Wirklichkeit erscheint, sondern als der einzig wahre Spiegel für unser Dasein, für die Gestalt des Lebens. Aber Ideen sind für ihn, wie für Platon, keine Abstraktionen, sondern die Essenz der Dinge.

Eugène Delacroix betrachtete
auf dem Ärmelkanal die Dampfschiffe,
die langsam, systematisch begannen,
die Fregatten mit geblähten weißen Segeln zu verdrängen,
und schrieb traurig in sein Tagebuch:
Alles um uns ist im Verfall begriffen,
die Schönheit der Welt verschwindet für immer;
ununterbrochen erscheinen neue
Erfindungen, nützlich vielleicht,
doch unendlich banal
[…]

Es gibt viel neue Wirklichkeit,
und das Wunderbare ist schüchtern geworden,
es ist schwer zu finden, schwer zu erinnern

Trotz dieser Nähe zum platonischen Idealismus, ist Zagajewski selbstverständlich auch ein Dichter nach eigener Definition und somit Vorsokratiker – einer, der staunt, der zu erklären versucht. Bei ihm mischt sich dieses Staunen aber mit der Melancholie eines Begreifens, das einige Dinge sicher weiß. Zum Beispiel: Dass die Zeit die einzige Meisterin ist und was immer die Menschheit als ihre Schülerin auch tun mag, wird nie erreichen, was sie, langsam und stetig und unerbittlich, vollbringt.

Denn wir leben in der Asymmetrie des Lebens und auch das Symmetrische der Kunst kann uns nicht aus diesem Zustand befreien; es kann uns nur locken mit anderen, klareren Welten; uns Verständnis anbieten, das die aus dem Gleichgewicht geratenen Bedingungen beleuchtet. Es kann uns locken mit dem Glauben, man könne Verstehen und Begreifen horten und steigern und die Stimme der Kunst werde solange sprechen, bis die tiefst-mögliche Erkenntnis erreicht ist. Darin der Glaube, man könnte in den Spiegel der Kunst sehen, und endlich auf das einwirken, was um einen wirkt.

Wir schätzen die Kunst,
weil wir wissen möchten, was unser Leben ist.
Wir leben, aber wir wissen nicht immer, was das bedeutet.
Also reisen wir, oder wir schlagen zu Hause ein Buch auf.

Wehmut, wie man an den Textbeispielen schon erahnen kann, ist die emotionale Konstante in Zagajewskis Lyrik. Sie ist sowohl der Grundanstrich für seinen eigenen Blick auf die Welt, als auch ein Sinnbild für den Grundtenor unserer Existenz. Schon in „Unsichtbare Hand“ zeichnet Zagajewski größtenteils das Verbliebene im Verschwundenen nach, bewegt sich in Erinnerungen, Rückblicken, selten nostalgisch, aber immer mit einem Hauch Rückwärtsgewandtheit.

In „Asymmetrie“ ist das noch mal stärker der Fall – hier geht es vielfach um den Ausklang, den Tod (im speziellen auch den Tod und die Erinnerung an die eigene Mutter) und Momente und Überlegungen, die meist auf etwas Fernes hinauslaufen oder sich dort verlieren. Das gibt den Gedichten einen unkonkreten Touch, den man aber nicht mit Schwammigkeit verwechseln sollte. Denn auf ihre Weise suchen diese Gedichte nach einem Weg, nach einer Gesetztheit der Sprache, in der die Dimensionen von Erfahrung vermittelt werden können.

Wir wissen, alle wissen, dass er mit dem Herrn sprach
in zahllosen Kantaten und Passionen, aber es gibt auch
die Chaconne aus der zweiten Partita für Violine solo:
Hier, vielleicht nur hier, spricht Bach von seinem Leben,
plötzlich, unverhofft erzählt er uns von sich,
stößt schnell und jäh Trauer und Freude hervor
(denn nichts anderes haben wir)

Vieles, was zunächst wie eine eigenwillige Anekdotendarlegung wirkt, zielt letztlich ab auf Grundsätzliches – die Ideenwelt liegt ebenso hinter einem Gedicht über Bach, wie hinter den Zeilen, welche die Erinnerungen an die Mutter umreißen. Und selbst in einem Gedicht, in dem Zagajewski sich in das Jahr 1945 zurückbegibt (das Jahr seiner Geburt), wo ihm in einem Eisenwaggon von einem Arzt das Leben gerettet wird, ist es nicht nur das konkrete Ereignis, das verhandelt wird, Zagajewski findet in diesen Zeilen eine Möglichkeit, die Verlorenheit seiner Generation anklingen zu lassen.

Diese Gedichte wollen über sich hinausweisen. Sie wollen nicht nur eine kurze Abhandlung hinterlassen, sie wollen mit ihren Phänomenen kommunizieren. Sie wirken zunächst wie etwas zu leicht von der Hand gegangen, wie persönliche und manchmal sogar unfertige Aufzeichnungen – aber während der Lektüre wandeln sie sich, werden zur besonderen Verkörperung und Auslotung einer Idee.

Jedes Gedicht, selbst das kürzeste,
kann sich in ein erblühendes Poem verwandeln,
wahrscheinlich könnte es sogar explodieren,
denn überall verbergen sich unermessliche
Vorräte an Herrlichkeit und Grausamkeit und warten
geduldig auf unseren Blick, der sie befreien kann

Man sollte diese Gedichte als Botschaften lesen, die aus dem Moment der Erfahrung heraus verschickt wurden und irgendwie versuchen, diesen Erfahrungsmoment mit einem Geflecht aus Worten so zu verwurzeln, dass er auch für die Lesenden noch vorhanden ist, mitten im Gedicht steht, blühend.

Zagajewskis Lyrik legt wenig Gewicht auf das Formale – zumindest in der deutschen Übersetzung fallen die lose Struktur und die nicht vorhandenen sprachexperimentorientierten Schnörkel auf. Diese Formlosigkeit verleiht den Gedichten allerdings eine Freiheit und eine Klarheit, was sie beides nutzen, um ihre Epiphanien vorzubereiten.

Vielleicht haben wir nur so getan, als wüssten wir nichts.
[…]
 – vielleicht bekamen wir Angst vor unserem eigenen Mut.

So entsteht eine Dichtung, dir nicht nur ein Spiel mit Wahrnehmung und Folgerung ist, sondern sich als Anker versteht, als Rückzugsort und, again, als Spiegelung der Erfahrungen. Eine Dichtung, die es sich auch erlauben kann, plötzlich die Perspektive zu verschieben, über Bach oder Delacroix zu schreiben, dann wieder das lyrische Ich und den Autor zu verschmelzen, nur um im nächsten Gedicht plötzlich abzuheben und das Feld der Darstellung auf das große Ganze zu verlegen.

Was an Zagajewski so großartig ist: dass ihm die Epiphanien trotz der Einfachheit seiner Dichtung immer wieder gelingen. Obwohl es manchmal wirkt, als würde er dahinreden, als würde er Phrasen schnitzen oder sich in der Wehmut des Beschworenen verlieren. Aber dann tritt doch wieder etwas klar hervor, fügt sich zusammen, sodass die Linien der Sätze, scheinbar willkürlich gezogen, plötzlich die Zeichnung von etwas Wesentlichem ergeben.

Dass Zagajewski dabei immer wieder auf Figuren von Künstler*innen und historisches Gedankengut zurückgreift und allgemein auf vieles referiert, kann manchmal hochgestochen, befremdlich anmuten. Doch auch in diesen hohen Gesprächen, die über die Grenzen der Zeiten hinweg geführt werden, offenbart sich etwas – vielleicht etwas, das nicht ausreicht, um eine Idee zu verkörpern. Aber für mich verweisen dieses Gedichte (wie beispielsweise eines, das sich um das Grab von Bertolt Brecht dreht, siehe Zitat unter diesem Abschnitt) auf das große Dilemma und die große Schönheit, die in der Auseinandersetzung mit dem Dasein liegen.

Dein Grab befindet sich im Zentrum von Berlin
auf diesem snobistischen, philosophischen Friedhof,
wo nicht irgend jemand begraben wird, dort

wo Hegel und Fichte ruhen wie verrostete Anker
(ihre Segelschiffe versinken im Abgrund von Handbüchern).

Deine sonderbaren Irrtümer, deine Verehrung für die Doktrin
liegen neben dir wie Axt und Speer in den Gräbern der Jungsteinzeit,
ebenso nützlich, ebenso unabdingbar.

Ich kann nur empfehlen, Zagajewski zu lesen. Er ist ein feinsinniger Chronist der Erfahrungswelten und ihrer kulturellen Einbettung, ihres kulturellen Ausdrucks. Und als solcher schrieb er in diesem Band zwei Zeilen nieder, die zwar nicht ausführen, was unser Aufenthalt auf Erden bedeuten kann, aber eine Ahnung davon geben, was es bedeutet, einen solchen Aufenthalt zu haben:

Ich bin nur ein unachtsamer Tourist,
doch ich liebe das Licht. 

Adam Zagajewski
Asymmetrie
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Hanser Literaturverlage
2017 · 80 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25656-9

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