„Weil er er war, weil ich ich war“
Auch wenn es nicht explizit kenntlich gemacht wird, spielt das Thema der Freundschaft eine gesonderte Rolle in der fünften Sinn und Form Ausgabe des nun schon neunundsechzigsten Jahres.
Den Anfang machen Ausschnitte aus dem Briefwechsel Alfred Kerrs und Arthur Schnitzlers, die zwischen 1896 und 1926 im unsteten Kontakt miteinander standen und sich zeitlebens doch mehr von ihrer Freundschaft erhofften. Schnitzler, der neben seiner literarischen Arbeit als studierter Mediziner seine Praxis in Wien nie ganz aufgab, führte im Gegensatz zu dem umtriebigen Theaterkritiker Kerr ein recht sesshaftes Leben. Trotz der unterschiedlichen Lebensstile suchten aber beide nach einem Weg, eine Brücke in das Leben des anderen zu schlagen: Im Nachdenken über das Schreiben und in der Reflexion ihrer Gefühle, vor allem aber im Ausdruck ihrer gegenseitigen Zuneigung. Durch den Umstand, dass Kerr als Kritiker auch Schnitzlers Werke zu kommentieren hatte, schlich sich allerdings mit der Zeit ein immer unübersehbares Ungleichgewicht in ihre Beziehung mit ein. Schnitzler hatte ein sehr sensibles Gehör für seine Anmerkungen, nahm sie sich besonders zu Herzen, nicht zuletzt auch deshalb, weil er mit sich selbst und seiner Dichtung ebenfalls hart ins Gericht ging. Seine Verletzungen traute er aber nur seinem Tagebuch an, dort gab er zu, dass ihn die Kritik Kerrs an empfindlichen Stellen treffe. Die Briefe sind Zeugnis dafür, dass beide zueinander oft nur als Autor bzw. Kritiker finden konnten, nicht aber als Freundes Freund. Dass sich Kerr selbst mehr als Dichter denn als Kritiker verstand, trug ebenfalls zu Missverständnissen bei:
Der wahre Kritiker bleibt ein Dichter: ein Gestalter. (...) Wert hat, wie ich glaube, nur Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt: so daß sie noch auf Menschen wirken kann, wenn ihre Inhalte falsch geworden sind. Die Kritik, die als eine Dichtungsart anzusehen ist.
Schnitzler verlangte dagegen etwas mehr Bescheidenheit wie in den posthum veröffentlichten Aphorismen und Notaten deutlich wird:
„Allzu oft betont er, daß er nicht nur ein großer Kritiker, sondern auch ein größerer Dichter sei als die meisten derjenigen Autoren, über die er zu schreiben hat. Vielleicht hat er recht; aber er sollte das Urteil der Nachwelt überlassen.“
Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner widmet sich dem Motiv der Freundschaft wiederum aus der Perspektive Stefan Zweigs. Dieser hat zwar keine längere Arbeit über Freundschaft verfasst, in seinen Würdigungen, Nekrologen und Briefen ist aus der Sicht Görners aber schließlich doch eine vielschichtige Freundschaftsprosa entstanden. Montaignes Verständnis von Freundschaft dient ihm dabei als Anhaltspunkt. Die seelische Wertschätzung und das gegenseitige Verständnis des Anderssein des anderen sind maßgeblich für jedes freundschaftliche Bündnis: „Weil er er war, weil ich ich war“. Zweig begreift allerdings auch die Essais selbst schon als freundschaftliche Zuwendung Montaignes und verfolgt somit ein übergreifenderes Freundschaftskonzept. Nicht nur das persönliche Verhältnis zu einem anderen Menschen ist von Relevanz, auch im gemeinsamen Denken ist es nach Zweig möglich, sich freundschaftlich verbunden zu fühlen:
Nehme ich die Essais zur Hand, so verschwindet im halbdunklen Raum das bedruckte Papier. Jemand atmet, jemand lebt mit mir, ein Fremder ist zu mir getreten, und kein Fremder mehr, sondern jemand, den ich fühle wie einen Freund. […] Ein Freund ist gekommen, mich zu beraten und von sich zu erzählen.
Freundschaftlich verbunden fühlt sich auch der Ich-Erzähler aus der Kurgeschichte Die dichte Welt von Aris Fioretos zu seinem ehemaligen Schulkamerad J. Sehr eindringlich wird von diesem jungen Genie berichtet, der die merkwürdige Angewohnheit hatte, alles Aufgeschriebene sofort unter einem Dickicht von zusammengedrückten Schreibschrift-o’s zu verhüllen und auch sonst ein eher unkonventionelles, fast autistisches Verhalten an den Tag legte. Seine Körperbewegungen glichen einer „dunklen, geheimen Motorik“, seine Stimme verriet ein älteres Wissen über die Dinge, einen höheren Grad der Erkenntnis. Das wirkliche Problem der Menschheit liege nicht in seiner lächerlichen Vernunft oder in der eventuellen Absurdität des Daseins (Camus), sondern in der Dichte der Welt, so der junge Gymnasiast. Damit ist die unerbittliche Wirklichkeit gemeint, von der die menschliche Vernunft seit jeher umgeben ist, die Unentrinnbarkeit der Welt, die einen jeden vor den sogenannten „Zugzwang“ stellt. Schlussendlich ist es ironischerweise dieses tiefe Wissen, was ihm zum Verhängnis werden sollte. Fioretos entfaltet die Geschichte um den geheimnisvollen J. mit dem „komplizierten Lächeln“ leise aber deutlich. Unbedingt zu empfehlen.
Den Theorieteil dieser Ausgabe bestreitet wieder einmal Dauergast der Zeitschrift Peter von Matt im Gespräch mit Sieglinde Geisel. Die übergeordnete Frage des Interviews dreht sich um das Wie des Lesens. Von Matt hebt zunächst die Besonderheit der Literaturwissenschaft im Gegensatz zu anderen Wissenschaften hervor, die es immer mit einmaligen Gebilden zu tun hat, mit Singularitäten, die auf verbindliche Begriffe gebracht werden sollen. Ohne Handlung, ohne Szenen, keine Literatur, so von Matt. Außerdem gäbe es nur drei Schlüsse für einen Roman oder ein Drama: Hochzeit, Mord oder Wahnsinn. Dieses etwas lapidare Schema lässt so manche Fragen offen: Wo wären Romane von Schriftstellern wie etwa Andreas Maier einzuordnen, die Zustände beschreiben, aber keinen dramatischen Schluss vorweisen können? Und die noch drängendere Frage: Wozu ein solches Modell? Zuzustimmen ist ihm jedoch in seinem nachfolgenden Gedanken, in dem er sich gegen die immer noch vorherrschende „Verpackungsästhetik“ ausspricht, in der die Literaturwissenschaft dazu aufgefordert wird, die verhüllten Ideen des jeweiligen Autors aufzuspüren, die jener angeblich hineingepackt hat. Er plädiert im Gegensatz zu dieser einfachen Baukastenlogik für ein Aufmerksam-machen, vergleicht hierzu Literatur mit einem unerforschten Urwald, der im „Vollzug des Textes“ stets neue unbekannte Wesen hervorbringt.
Dieser „Vollzug des Textes“ sei für den unten stehenden Gedichtausschnitt aus Ich habe genug ebenfalls ans Herz gelegt. Der israelische Schriftsteller und Literaturkritiker Yitzhak Laor erzählt darin von der hohen Kunst der Genügsamkeit.
Das Leben hat keinerlei Bedeutung, sagst du
außer das Joch zu tragen, und ich, wie seit du mich fandest
lerne von dir und gebe dir in allem recht und trotzdem, das Brot
ist nicht nur Brot und der Wein ist nicht nur Wein manchmal
zeigt dein Gesicht am Tisch ein anderes, großes Licht.
Ich habe nichts in der Hand, ich habe genug
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