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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Europäische Gedächtniskultur

Hamburg

Die kluge Entscheidung des Verlags, das zum ersten Mal auf Deutsch erscheinende Frühwerk des serbischen Autors mit einem ausführlichen Nachwort von Ilma Rakusa zu versehen, erweist sich als notwendiger Schritt zur nachhaltigen Lektüre eines ungewöhnlichen Textes. Danilo Kiš, 1935 in Novi Sad geboren, 1989 in Paris gestorben, hat ihn im Alter von 25 Jahren geschrieben mit dem Wissen um die Ermordung seines Vaters in Auschwitz und dem Pogrom der Bevölkerung in Novy Sad an ihren jüdischen Mitbürger/innen im Jahre 1942, nach der militärischen Besetzung Serbiens durch die Hitlertruppen. Diese beiden Einsichten erweisen sich als die entscheidenden fiktionalen Impulse, von denen sich Danilo Kiš bei der Umsetzung seines Romans leiten ließ.

Der aus dreizehn Kapiteln bestehende Roman wird eingeleitet durch zwei Zitate, die dem ersten Buch Mose und dem Psalm 44 des David entnommen sind. Sie verweisen auf Schwangerschaft und Geburt eines Sohnes, der Ismael genannt werden soll, denn der HERR habe sein Elend erhört. Das zweite Zitat aus dem Psalm bezieht sich nur mittelbar auf die ablaufende Katastrophe, die massenhafte Vernichtung der Juden. Weitaus markanter ist diese in Psalm 44, 17 benannt: „Du giebst uns dahin wie Schlachtschafe und zerstreust uns unter die Heiden.“ Beide Narrative bilden das Konstrukt einer Handlung, in der verschiedene Akteure aufeinander treffen. Der junge polnische Arzt Jakob, die Häftlinge Maria, Jeanne und Polja, der von den Nazibehörden eingesetzte Lagerarzt Dr. Nietzsche, Pseudonym für den berüchtigten Dr. Mengele, und der gleichsam unsichtbar handelnde Max, ein deus ex machina, der im Hintergrund handelt, und im rechten Augenblick als Retter auftritt.

Tragendes Handlungselement ist das heimliche Liebesverhältnis zwischen dem jungen polnischen Arzt Jakob und der Jüdin Maria. Dank der selbstlosen Hilfe und des uneigennützigen Beistands von Jeanne und Polja bringt Maria ihren Sohn zur Welt bringt. Und dies alles unter waghalsigen Umständen und mit Marias unbedingter Absicht, gemeinsam mit ihrem Sohn aus dem Lager zu fliehen. Ein höchst riskantes Unternehmen, das in der unmittelbaren Erwartung der militärischen Befreiung von Auschwitz durch die Truppen der Roten Armee geplant wird. Auch Doktor Nietzsche wird von diesem Gedanken getragen, allerdings unter anderen Prämissen. Noch während er seine mörderischen medizinischen Experimente fortsetzt, trägt er sich mit den Gedanken an die Bewahrung und die Rechtfertigung seiner Forschungen. Diese ethischen und rassistischen Aussagen formuliert er in einem nächtlichen Gespräch mit Jakob, in dem er seine tödlichen medizinischen Versuche vor allem an weiblichen Häftlingen legitimiert und darüber hinaus den polnischen Lagerarzt Jakob um die Rettung seiner Forschungsergebnisse bittet.

Dieses vielschichtige fiktionale Handlungsgewebe bringt einen Text hervor, der zu den bedeutenden Zeugnissen der Shoa-Literatur gehört. Mit dem Verweis auf Ilma Rakusas Feststellung, dass Danilo Kiš‘ Erzähler über ein beneidenswertes Geschick im Umgang mit den erzählten Zeiten verfüge, und er sich in die Topographie der Vernichtungswelt von Auschwitz-Birkenau imaginiert habe, soll die besondere Eigenart des vorliegenden Textes gewürdigt werden. In erster Linie ist es die Umsetzung der Gedankenwelt von Maria, die ungeachtet der lebensbedrohlichen Bedingungen während der Flucht aus dem Lager immer wieder an den abwesenden Jakob denkt, ihn in ihre Vorstellungswelt einbezieht. Diese Flucht wird von Max und Jakob organisiert, die es mit List und Geschick schaffen, Maria mit ihrem wenige Monate alten Sohn Jan zunächst nach Auschwitz-Birkenau verlegen zu lassen. Allerdings mit einem Wehmutstropfen. Maria und Jan sehen Jakob erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder, nach vielen Irrwegen und schrecklichem Leid auf langen Fluchtwegen.

Es sind die aus dem Erfahrungsstrom der aus dem 1942-Pogrom in Novi Sad gewonnenen Einsichten, die der Autor in seine Erzählfigur Maria überträgt. Sie führen den Lesenden in Grenzbereiche sinnlicher Wahrnehmung, in denen die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse eine kognitive Bewertung menschlichen Handelns zunächst blockiert. Erst im Kapitel 13, dem Epilog, mit dem Auftritt von Max, dem rettenden Deus ex Machina, der Begegnung zwischen der Mutter Maria, Jakob und Jan wird diese Blockade aufgelöst und vermag den aus diesen Erfahrungen Lernenden sicherlich eine Erkenntnis vermitteln. Es ist das Wissen um die gigantischen Verbrechen der Nazis und ihre daraus entstehende mögliche Handlungsbereitschaft, rechtsextremistischen Propagandisten und ihren blinden Mitläufern - siebzig Jahre nach dem Zerfall des sog. Dritten Reichs -bewusst entgegenzutreten mit einem Ziel: die Irrwege ihres dumpfen, blindwütigen Denkens und Handelns aufzuzeigen. 

Dieses bewegende literarische Dokument mit einer weit in die Zukunft weisenden Erkenntnis- und Überzeugungskraft sollte nicht nur in den Fundus einer europäischen Gedächtniskultur aufgenommen werden. Dank der kongenialen und transparenten Übersetzung von Katharina Wolf-Grießhaber und des Nachwortes von Ilma Rakusa bietet Psalm 44 auch die Grundlage für öffentliche Lesungen und die Schullektüre in den oberen Klassen von Gesamtschulen und Gymnasien.

Danilo Kiš
Psalm 44
Übersetzung:
Katharina Wolf-Grießhaber
Hanser Verlage
2019 · 136 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26394-9

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