Neue Freunde
In seinem Buch über Friedrich Nietzsche schreibt der französische Philosoph Gilles Deleuze, dass
ein und dasselbe Ding, ein und dasselbe Phänomen, entsprechend den Kräften, von denen es aneignet wird, seinen Sinn verändert.
Der Sinn einer Sache ist in seiner prozessorientierten Denkweise kein vorgefertigtes Festes, das unabhängig von seiner Verwendungsweise gleich bleibt, sondern ein Extrakt, das aus den Beziehungen, in denen es (mit-)erzeugt wird, in immer neuen Verhältnissen hervorgeht. Wie kaum einE andereR AutorIn sucht die amerikanische Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway in ihren Werken eine solche Pluralität des Sinns und arbeitet dabei konsequent auf eine Dekonstruktion von inhaltlichen Bedeutungsmustern und schriftstellerischen Verhaltensnormen hin.
So liest sich das jetzt auf deutsch erschienene Buch „Unruhig bleiben“ auch wie ein Stück, dessen Hauptpersonen zwar aus dem Kanon kommen, aber sich doch ganz anders verhalten und ausdrücken als üblich. Bruno Latour, Isabelle Stengers, Anna Lowenhaupt Tsing, Gilles Deleuze, Ursula K. LeGuin, aber auch Korallen, Tauben, Pilze und Oktopusse: Sie alle und noch viel mehr behandelt sie als Akteure, die auf der Bühne der Theorie einen Ausdruckstanz vollführen und dabei – wohl auch zu ihrer eigenen Überraschung – in neuen Formationen zusammenfinden.
Es kommt nicht von ungefähr, dass in der Wahrnehmung von Haraway stets eine Unsicherheit darüber existiert, was sie denn nun eigentlich ist. Eine Sciencefiction-Autorin? Eine Biologin? Oder doch eine Philosophin, die unsinnig viele Phantasievorstellungen in ihren Text schraubt, um sich als einfallsreiche Geschichtenerzählerin von den prick tales der heteronormativen Gangart zu distanzieren? Eine solche Kategorisierung sich ausschließender Denk- und Tätigkeitsfelder hat mit Haraways eigenen Überlegungen allerdings wenig bis nichts zu tun. Denn unabhängig davon, wer sich was auf seine Visitenkarte schreibt, geht es für sie um die Art und Weise, wie mit Material – sowohl theoretischer als auch materieller Natur – umgegangen wird und wie sich was in eine produktive Beziehung setzen lässt. Entsprechend ist eines der zentralen Motive ihres Buches der „Kompost“. Er ist aufgrund seiner Fruchtbarkeit und Heterogenität sowohl eine Produktionsstätte immer neuer Lebewesen und Lebensformen, als auch ein metaphorischer Nährboden für eine „Theorie in Schlamm und Durcheinander“. Von diesem Ort denkt sie sich zu einer Theorie des Miteinanders durch, das aus einer organischen Multitude ohne autoritäres Zentrum besteht. Es ließe sich als faktenbasierte Ausdehnung eines Vorstellungsraumes bezeichnen, wie sie in immer neuen Anläufen reale und auf den ersten Blick unwichtige Randerscheinungen zu Hotspots ihrer imaginären Gedankenreisen macht. So verwandelt sich der Kompost im Hinterhof zur Brutstätte noch-fiktiver Kritter und tentakulärer Wesen, die vielgliedrig auch ihren Text durchkriechen und Seite um Seite die Sonderstellung des Menschen als erste Instanz unterwandern.
Wie körperlich und geradezu fleischlich Haraway denkt und schreibt, wird insbesondere dort zur treibenden Kraft, wo sie neue Wesen schöpft, die sie das dialektische Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Welt zernagen lassen. Denn für sie ist die Subjekt-Objekt-Ordnung als modus operandi der verschiedenen Spektralfarben der europäischen Philosophie an ein Ende gekommen:
Das Humane als Humus hat Potenzial, wenn es gelingt, das Humane als Homo zu zerhacken und zu verschreddern, dieses stagnierende Projekt eines sich selbst erzeugenden und den Planeten zerstörenden Unternehmers.
Im Vergleich zu ihren früheren Studien fällt dabei auf, dass sich die Strukturen, anhand derer sie über das Bestehende hinaus zu gelangen versucht, immer weiter ausdifferenzieren. Während sie in ihrem Cyborg-Manifesto (1984) noch eine singuläre Gestalt formulierte, in der sich die angestrebte Mannigfaltigkeit verkörperte und in ihrem Companion Species-Manifesto (2003) schon ein Geflecht unterschiedlicher Akteure entwickelte, so hat man es in der aktuellen Studie allein mit einem komplexen System des „Miteinander-Werdens“ zu tun, in dem menschliche und nicht-menschliche Lebewesen in symbiotische Beziehungen treten, um eine Vielfalt neuer Zwitterwesen zu werden. Im Chtuluzän, dem Zeitalter nach dem Anthropozän, ist der Humus der neue Homo, also ein Nährstoff, der in den Kreislauf aus Pflanzen, Würmern, Schnecken und Vögeln hineinverdaut wird und damit in den Kreis der Kritter tritt.
So bizarr ihre Argumente und Szenarien auch wirken: Das Lachen kann einem im Halse stecken bleiben. Denn es geht auch um eine schonungslose Darstellung der Weltzerstörung. Die Dringlichkeit neue Sphären zu erfinden, speist sich für sie aus der Einsicht, dass die Welt, wie sie ist, nicht mehr lange existiert. Das Ausmaß an Umweltzerstörung, die die Menschen durch ihren Raubbau an der Natur verursachten, habe die Welt unwiderruflich verändert. Nicht nur, dass die Ozeane ansteigen, sondern auch das Artensterben bei gleichzeitig wachsender Weltbevölkerung sind für Haraway Einschnitte, die jeden idealistischen Weltglauben an den Erhalt des Bestehenden lächerlich erscheinen lassen. Von Gaia aus zu denken, dieser Latour-Idee eines von den Menschen ausgeraubten Planeten, ist nach Haraway die einzige Möglichkeit, weder ignorant noch panisch in die Zukunft zu gehen.
Im letzten Kapitel, „Camilles Geschichten. Die Kinder der Kompostisten“, verschafft sie in einer futuristischen Kurzgeschichte den
überkreuz vernähten Generationen der noch-nicht-geborenen und noch-nicht-geschlüpften, verletzlichen, sich koevolutionär entwickelnden Arten
eine Gegenwart und skizziert, wie diese Kritter den ausgelaugten Planeten neu beleben könnten. Über fünf Generationen, von 2025 bis 2425, lässt sie die „Kompostistengemeinschaft“ um die Camille-Figuren herum wachsen und beschreibt en detail, welche Symbiosen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen dazu fähig seien, welche neuen Freunde zu finden sind. Dabei unterläuft auch das bedeutungsschwangere Wort „Kinder“ einen Sinneswandel, denn von nun an geht es nicht mehr um die Fortpflanzung des Menschen zur Errettung seiner Art, sondern um die Schöpfung neuer Wesen durch genetische Mutation. Es ist eine irre Fabel, in der die Vorstellung fürsorglicher Verwandtschaften zwischen Menschen und Faltern, Fischen, Vögeln, Krustentieren und Amphibien plastisch aus dem Kompost der Ideen klettert. Auch wenn diese Welt noch eine Idee ist, so erkennt man nach „Unruhig bleiben“ doch immerhin ihren Umriss. Es wird Zeit, sie zu besiedeln.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben