Sie sah Lucy von den Peanuts so ähnlich, dass in mir eine Woge der Zuneigung aufwallte
"Fjodor Michailowitsch: Was Titel – und nicht nur Titel – betrifft, welcher Schriftsteller könnte auch nur an den Saum deines erhabenen Gewandes heranreichen?"
Das ist der letzte Satz der Danksagung in Elif Batumans Die Idiotin. Allerdings, möchte man noch hinterher schieben. Originaltitel im Englischen ist bei beiden Büchern übrigens The Idiot. Die deutsche Genus-Spezifikation ändert hier etwas, macht es referentieller und damit auch angreifbarer. Selin, die Titelheldin des fast 500 Seiten starken Romans mit dem quietschbunten Cover, ist eigentlich keine "Idiotin". Sie lässt manchmal Sachen fallen und hat die Angewohnheit, aus spätjugendlichen Befindlichkeiten heraus, das Falsche beziehungsweise das Unvorteilhafte in gewissen Situationen zu sagen. Ok, aber eine Fürstin Myschkin, mit einer krassen Gefühlsisolation als "Zu-guter-Gutmensch" und Sanatoriumsaufenthalten, eine Figur contra alle, obwohl doch bloß nett und naiv, ist sie keineswegs. Sie ist nett, ja, aber sie ist vor allem vorsichtig und schnippisch und eine Erstsemesterstudentin, mit entsprechenden Problemen. Das ist nicht dasselbe. Es ist zwar nur ein Detail, aber es macht schon den Boden klar, auf dem Die Idiotin fußt: totale Oberflächlichkeit, Scheu vor Konzept und wirklicher Durchdringung und Gestaltenwollens. Der überlange Roman ist nichts anderes als ein permanentes name-dropping von eben Dostojewski, Tolstoj, Flaubert oder ca 200 anderen Klassikergestalten und Filmen, die mit der Handlung nichts zu tun haben. Die Handlung ist eigentlich auch keine Handlung, sondern einfach die Schilderung des Verstreichens von Zeit. Selin, die verliebte Studentin in Amerika, türkische Vorfahren, begeistert sich für alles, was in ihrer Harvard-Blase passiert, von Mathematik-Kommilitonen bis Lava-Lampen im Wohnheim und Batuman erzählt das alles wie eine orientierungslose Chronistin, die zwar ihre Figuren kennt, aber nicht im mindesten interessiert ist, etwas aus ihnen zu machen. Das verwandelt den Roman streckenweise, besonders im letzten Drittel, zu einer gähnend langweiligen Angelegenheit. Die "witzigste", "originellste" was auch immer sonst noch auf dem Cover steht (Miranda July und Sheila Heti u.a.) ist Batuman hier gewiss nicht. Wohl ist sie eine sehr gute Texterin, die in jedem Absatz amüsant und kniffig und an vielen Stellen äußerst geistreich sich eben zu Tolstoj u.a. äußert. Aber einen guten Roman macht das auch in 1500 Seiten weiterschreiben nicht. Schade. Selin ist hysterisch und etwas linkisch, wie wir wissen. Besitzt eine rasche Auffassungsgabe und ist in ihren Russisch Seminaren zu Beginn der "noughties" Jahre zunächst schüchtern, doch dann immer heftiger in Ivan, den Ungarn verliebt. Sie mailen sich, treffen sich. Nichts geschieht. Der Roman knistert nicht. Bleibt keusch bis auf eine späte Szene der Entdeckung der Möglichkeiten eines Duschkopfs. Selin folgt Ivan nach Ungarn, um dort als Englischlehrerin zu arbeiten. Nichts geschieht. Ivan geht nach Thailand. Selin verabschiedet sich. Selin besucht Verwandte in der Türkei. Der Roman endet. "Ich hatte nichts gelernt", ist der letzte Satz. Nun gut. Was nimmt man mit? Einzelne Episoden, das Schwelgen in Erinnerungen an große eigene Romanverkostungen, wenn die Namen fallen, hach ja. Einige interessante Bemerkungen zu Sprache und Linguistik, so man sich davon freimachen kann, dass hier nicht einfach nur die Zusammenfassungen von Seminarinhalten kommentiert präsentiert werden. Leichtfüßig ist er, der Stil von Batuman, überraschend definitiv in einigen fast beiläufig ungeordneten schnellen Schilderungen, aber mitsamt allem Beiwerk von etwa 300 Seiten haben diese Stellen kaum Chance, das Ganze zu stützen/ retten. Vielleicht im nächsten Roman, oder gänzlich im nächsten Essayband zu Themen aus Literaturwissenschaft, Mathematik und Linguistik. Ein paar Absätze aus der Idiotin:
"Die Geschichte war raffiniert geschrieben, es kam nur die Grammatik vor, die wir bisher durchgenommen hatten. Weil wir den Dativ noch nicht kennengelernt hatten, gab Iwans Vater Nina nicht einfach den Brief, sondern musste sagen: "Auf dem Tisch dort liegt ein Brief." Weil wir die Verben der Bewegung noch nicht kannten, sagte niemand direkt: "Iwan ist nach Sibirien gegangen." Stattdessen schieb Iwan: "Wenn du diesen Brief liest, werde ich in Sibirien sein.""
"Ich schaltete den Computer aus und ging mit Ralph zur Copley Plaza, um mit ihm Hosenträger auszusuchen. Mit der Drehtür hatte ich Schwierigkeiten. Ich dachte die meiste Zeit daran, dass ich es nicht mit Tricks versuchte [...] Wie sollte ich es je im Leben zu etwas bringen? Wie sollte sich jemals jemand im Leben für mich interessieren?
Hinter den Damenparfums, der Kosmetik, den Handtaschen und Sonnenbrillen fuhren wir mit einer Rolltreppe hinunter zur Herrenabteilung. Die ganze Abteilung war unsinnig, nichts war darauf angelegt, die Kunden zu überraschen oder zu erfreuen, und alles sah gleich aus. Wie sollte man sich zwischen so vielen grauen Jacken entscheiden? Trotzdem strich immer wieder über die breiten, festen Schultern, und obwohl ihre Ernsthaftigkeit und Aufgeblasenheit ein wenig lächerlich wirkten, spürte ich eine Woge der Sehnsucht."
"Rozsa nahm meine Hand und führte mich in die Dunkelheit. Ich war zum ersten Mal in einer Höhle. Es roch scheußlich. Je tiefer wir hineingingen, desto kälter, dunkler und stinkender wurde es. Spinnweben hefteten sich wie ein langer Schwanz agglutinierender Suffixe an unsere Arme und Gesichter. Als sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten wir die Spinnen sehen. "Sie sind müde", sagte Rozsa. Tatsächlich hatte ich noch nie eine derart träge Spinnenbande gesehen."
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