Ein Lesen von Welt
In ihrer Begründung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 für Hain von Esther Kinsky schreibt die Jury, der Roman sei ein stilles, kaum bewegtes, menschenarmes Buch, das man langsam lesen müsse, »mit einer Geduld, die nichts erwartet und gerade deshalb mit einem Staunen über die Fülle seiner Einzelheiten belohnt wird.«
Die Autorin nennt Hain einen Geländeroman und betont in einem Interview den Unterschied zu dem Begriff Landschaft, weil ein Gelände für sie etwas Offenes, nicht so Festgelegtes sei. Um Sehen gehe es ihn ihrem Roman und wie man Sehen in Sprache umsetze.
Als Motto hat die Autorin ihrem Roman ein Zitat von Ludwig Wittgenstein vorangestellt:
Hat es Sinn, auf eine Baumgruppe zu zeigen
und zu fragen: »Verstehst Du, was diese
Baumgruppe sagt?« Im allgemeinen nicht;
aber könnte man nicht mit der Anordnung
von Bäumen einen Sinn ausdrücken, könnte
das nicht eine Geheimsprache sein?
Die Ich-Erzählerin, die wahrscheinlich viel mit der Autorin gemeinsam hat, kommt nach Italien kurz nachdem ihr Gefährte gestorben ist und sieht ihre Umgebung durch den Filter dieser Verlusterfahrung. Als Stipendiatin für das Casa Baldi lebt sie im Winter drei Monate in Olevano, einem Bergdorf eine Stunde von Rom entfernt. Eine andere Reise führt sie, ebenfalls zur Winterzeit, in die vom Wasser bestimmte Lagunenlandschaft der Valli di Comacchio. Dazwischen liegen Reisen ihrer Kindheit mit ihrem italophilen Vater.
In dem ersten kursiv geschriebenen Kapitel beschreibt Esther Kinsky, dass es in rumänischen Kirchen zwei Bereiche für Kerzen gebe: Eine Abteilung der Kerzen für die Lebenden, eine für die der Toten: viĭ / morţĭ.
Wenige Monate, nachdem ich diese Szene in einem Film sah, starb M. Ich wurde Hinterbliebene. Vor dem Eintritt der Hinterbliebenenschaft mag man »Tod« denken, aber noch nicht »Abwesenheit«. Die Abwesenheit ist undenkbar, solange es noch eine Anwesenheit gibt. Für den Hinterbliebenen bestimmt sich die Welt durch Abwesenheit. Die Abwesenheit des Lichts im Raum der viĭ überchattet das Flackern im Raum der morţĭ.
Mit diesen Gefühlen im Gepäck nimmt die Erzählerin ihre Umgebung war. Unermüdlich begeht sie, erwandert sie sich in Olevano das Gelände, beschreibt Menschen, Geschäfte, Straßen, Rufe der Vögel und die Veränderungen des Lichts zu unterschiedlichen Tageszeiten.
Am Nachmittag wurde es hell und das Licht unter dem gleichmäßig blassen Himmel fast frühlingshaft. In der fremden Landschaft lernte ich die Raumverschiebungen lesen, die sich mit den Veränderungen des Lichteinfalls einstellten.
Immer wieder überfallen die Erzählerin, nicht nur in Träumen, Erinnerungen an M., wird seine Abwesenheit deutlich. Sie sieht ihre Hände auf dem Fensterbrett und glaubt, darunter M.s Hände zu sehen,
weiß und zart und langgliedrig, seine Sterbehände, die anders waren als die Lebehände.
Oder sie sucht ein verlorenes Fotokabel, weil es M. war, der es bei einer Urlaubsreise gekauft hatte. Seien es Olivenbäume im Nebel, Ausblicke über die Ebene mit ihren schimmernden kleinen Feldern, jede Kleinigkeit nimmt sie in der Natur wahr, aber:
Das Bleiherz verwuchs mit allem, was sich an Gesehenem in mir niederließ.
In Comacchio, der vom Wasser bestimmten Leere der Valli, wo Schilf und Vogellaute dominieren, denkt sie an ihren Vater und hat das Gefühl, ihre Erinnerungen seinen ebenso schwankend wie ihre Umgebung. Doch beim Anblick der vielen Lastwagen, die täglich nach Ravenna fahren, erinnert sie sich an Gespräche mit ihrem Vater über seine Leidenschaft für die Etrusker und die Kunst des Mosaiklegens und es ist ihr
mit einem Mal gewesen, als sollte ich Orte aufsuchen, Gelände begehen, mich an den dünnen Fadenspuren entlangtasten, die sich zwischen meinen Erinnerungen und Bildern, Orten, Namen spannten. Spina hatte ich gesucht, nun war ich auf dem Weg nach Ravenna.
Dort findet sie das Mosaik Hafen, von dem ihr Vater vor langer Zeit vage gesprochen hat, kann das Flüstern der Steine nachempfinden und hat somit bei aller Verlorenheit in der Erinnerung einen Halt gefunden.
Es ist bemerkenswert, wie es Esther Kinsky gelingt, die Leere der Landschaft mit vielen Einzelheiten zu beschreiben. Sie liest, wie eingangs von Wittgenstein vorgeschlagen, in jedem Vogel, in Blumen, Bäumen, unterschiedlichen Geräuschen des Regens.
Das Rascheln der Palme, das Wispern der trockenen Schilfstengel, die Vogelrufe, das alles war eine neue Sprache, die gelernt werden musste.
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