Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

„stets auf ausschau nach dem offnen“

in der Stille verstummende Gedichte um die Stille
Hamburg

Die Gedichte von Esther Kinsky in „AM KALTEN HANG. viagg‘ invernal“ sind ebenso still wie stark, machen es einem nicht leicht, über sie zu sprechen, da einem selbst immer wieder schlicht und einfach die Worte wegbleiben:

KINDER gehen mit stöcken und schlagen
erfrorene zeisige aus dem gezweig
so geht es im winter sagt sich so doch
welche weisheit haben wir nun
da es kein wort gibt für dieses
dünne zerschellen und bersten der
eisgewordenen körper auftreffend auf
anderes eis?

[…]

Es sind Gedichte, die ich lieber leise lese, denen ich nur mit den Augen über die Seiten folge, lautlos, um die ihnen innewohnende Stille nicht zu durchbrechen.

[...]

doch alles hielt mit uns
still und verstummte
wartete ab
welches wort sich wohl fand für die
abwesenheit jeglichen lauts
auf unwirtbarem weg.

Der Gedichtband ist in zwei Kapitel unterteilt, jedes enthält je 12 Gedichte. Das Besondere an diesem Gedichtband ist vielleicht gar nicht so sehr in den Gedichten selbst, als vielmehr im Dazwischen zu finden. Denn jedem Gedicht ist ein quadratischer kleiner Druck von Christian Tanhäuser gegenüber, bzw. vorweggestellt. Und unter den Gedichten verläuft ein durchgängiger, meist vierzeiliger, Sprachfluss. Aus diesem erheben sich dann die Gedichte. Man könnte es aber auch so sehen, dass der Sprachfluss an den Gedichten, die seine Ufer darstellen, vorüber zieht. Wie auch immer, in jedem Fall ist dieser Sprachfluss für den gesamten Gedichtband richtungsgebend und lässt alles zu einem Ganzen werden.

Die Beziehung zwischen Gedichten und Sprachfluss ist extrem spannend, da es ein changieren zwischen Nebeneinander und Miteinander ist. Immer wieder kommt es zu einem brückenschlagenden Dialog, wenn Themen aufgegriffen und weitergetragen werden, im folgenden Zitat beispielsweise der Traum:

[...]

zum liegen gekommen in sichtweite
von nestern des bluthänflings
hatt ich einen traum: einer
werweißwer man sah nicht
sein angesicht
träumte von boten
die wandten sich schweigend
von ihm ab.

Denn auch in den darunter laufenden vier Zeilen wird Traum thematisiert „ : ja das war ein traum pfeift sich so // leicht dahin“

Durch die Gedichte lassen sich räumliche wie zeitliche Bewegungen nachverfolgen. Gerade die vier Zeilen am Ende sind eine Wanderung gen Süden, die sich geographisch nachvollziehen lässt, da einige Flüsse namentlich genannt werden und es zum Meer geht.

Wie es sich für eine Wanderung gehört, beginnen auch die vier Zeilen mit einem Aufbruch, einem „Aufbruch in regenstreifiges land“. Im Mittelpunkt dieser Wanderung steht das Gebirge, das heißt die Bewegungsrichtung geht auch hinauf und durch und über das Gebirge, bis der Weg schließlich „HINAB ins land vom // gebirg“ und  „Hinab // ins flache.“ führt. In dieser Bewegungsrichtung korrespondieren Gedicht und vier Zeilen miteinander, da es auch hier wieder hinab in die Ebene geht und der Blick nur noch einmal zum Gebirge zurückgewandt wird:

die ebene liegt rot und blau und lila bis braun ohne kaltes in allen farben : kälte ist im
gebirge geblieben : da steht es in der ferne als ginge die welt dort zu ende und sieht
doch traurig aus : so unteilhaftig an der sanftheit und sich selbst so ungenug in seiner
aufgetürmtheit die doch nicht bis an den himmel reicht : […]

Zeitlich gesehen ist der Winter gleichsam zentral wie das Gebirge. Allerdings ist der Winter in den Gedichten nichts Statisches, sondern ebenfalls etwas sich ständig in Bewegung Befindliches, denn auch er kommt und geht wie die Nacht, wird vorausgeahnt und zurückerinnert.  

Ausgangspunkte für Esther Kinsky waren zum einen Sprüche des alttestamentarischen Propheten Jeremiah und zum anderen Schuberts Winterreise. Aber auch auf Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh“ lässt sich ein Verweis finden, denn genau das sucht der Wanderer, Ruh, wird aber im Gedicht von Esther Kinsky nicht fündig: „KEINE rede von ruh im gebirg“

Es geht in den Gedichten von Esther Kinsky um Erinnerung, um ein im Zurückschauen vorausdenkendes Erinnern. Und es geht um den Tod an sich, wenn in den Gedichten über Stille, Verstummen, Einfrieren, Zufrieren und Erfrieren geschrieben wird. Und es geht auch um das Leben, das dem Tod trotzt, besonders eindrücklich in dem Bild des Flusses, der unter der Eisschicht in Bewegung, lebendig bleibt und so Leben schützt, wie das der Aale:

auch der fluß hat doch noch licht tief unter der
decke die sich dem eis verwehrt und fließt : herzfluß mit aalen reis und reusen die aus
unklarer tiefe schimmern hier gehts ins meer

Sehr bemerkenswert an dem Gedichtband ist, dass es Esther Kinsky darin immer wieder gelingt unglaublich starke Bilder in den Raum zu stellen, die für sich stehen und in Erinnerung bleiben:

AUCH die geköpfte
distel fand sich schließlich sie ragte
noch halb aus dem schnee
und der kopf
abgetrennt vormals lila
und grau lag in einiger entfernung
in eine wehe geschmiegt

[…]

Die Gedichte enden alle in einem Punkt und verwenden auch sonst spärlich aber doch Interpunktionen. Ganz anders sieht das bei der „sich unter jedem Gedicht fortsetzende[n] lyrische[n] Tonspur“ (Zitat Iain Galbraith, Klappentext) aus. Denn diese verwendet weder Punkt, noch Beistrich oder Fragezeichen, sondern einzig und allein den Doppelpunkt. Dabei handelt es sich aber um eine andere Art des Doppelpunktes, als den „gewöhnlichen“, den man in den Gedichten finden kann. Die Tonspuren verwenden nämlich die französische Schreibweise des Doppelpunktes, also nicht nur ein Lehrzeichen nach dem Doppelpunkt, sondern auch eines davor. Damit entsteht optisch der Eindruck einer Gleichsetzung. Im Deutschen stellt diese Schreibweise sofort einen Bezug zu Friederike Mayröcker her, einfach weil sie diese schon sehr lange in ihren Texten verwendet.

Die vier Zeilen am Seitenende sind in einer wesentlich kleineren Schriftgröße wie die Gedichte darüber gesetzt. Das ist ärgerlich, weil dadurch das Lesen dieser so dicht verwobenen Zeilen alleine durch die Schriftgröße bedingt unnötig anstrengend wird. Und es ist sehr schade, weil die Zeilen dadurch optisch zu Fußnoten werden, was sie inhaltlich rein gar nicht sind. Ganz im Gegenteil sehe ich vielmehr diese Zeilen nicht nur als den Kern und alles verbindenden roten Faden des Gedichtbandes, sondern für sich alleine genommen auch als ein Langgedicht mit sehr vielen Stellen, bei denen man gerne verweilt:

: der fluß mit seinen
armen liegt im tintenschwarzblau der mondlosigkeit :

Um das Besondere dieser eigenständigen vier Zeilen am Seitenende, welche sich dennoch in regem Austausch mit den Gedichten über ihnen befinden, aufzuzeigen, möchte ich einen anderen Gedichtband aus meinem Bücherregal ziehen: „DRIVEN TO ABSTRACTION“ von Rosmarie Waldrop (New Directions, 2010).

Der darin enthaltene und ebenfalls 24 Gedichte umfassende Gedichtzyklus „MUSIC IS AN OVERSIMPLIFICATION OF THE SITUATION WE AR IN. in memory of John Cage“ setzt unter die Prosagedichte je zwei durchlaufende Zeilen ans Seitenende. Es handelt sich dabei allerdings um Worte aus den Gedichten, welche in alphabetischer Reihenfolge angeordnet zu einem Klangteppich und Echoraum für die Gedichte werden:

smile smoke sneakers sneeze snore so solution something sonata soon soul sound sour space special
spell spew spontaneous spread square stand start steady step stitch stopwatch story straight string

Der Effekt und die Funktion der Zeilen sind damit ganz andere, als bei Esther Kinsky, weil die Zeilen bei ihr eben gerade keinen Klangteppich erzeugen, sondern ein die Erzählung stetig voran treibender Wortfluss sind. Oder auch ein Weg durchs Gebirge, dem man folgen, aber auch übersehen kann. Und doch ist das Prinzip im Grunde genommen ein ähnliches, denn in beiden Fällen werden die einzelnen Gedichte durch diese Zeilen fest miteinander verwoben, auch wenn sich die Ausführungsweisen bei Rosmarie Waldrop und Esther Kinsky stark unterscheiden.

Das letzte Gedicht in „AM KALTEN HANG. viagg‘ invernal“ endet mit der Zeile: „so sing uns doch ein lied.“ Dieser Aufforderung, so es als solche zu verstehen ist, verweigert sich aber die Textspur darunter, denn diese bricht schon nach eineinhalb Zeilen ab und endet gleichsam in Schweigen: „ : rauhreif über den // olivenbäumen : vögel die stumm sind :  “

Und auch die Gedichte von Esther Kinsky möchten nicht singen, denn es sind stumme Gedichte, welche dadurch erst die Stille um sich hörbar machen. Sie sind damit die Wortlosigkeit selbst, ausgedrückt in Worten.

Esther Kinsky
Am kalten Hang | viagg’ invernal
Illustration: Christian Thanhäuser
Matthes & Seitz
2016 · 60 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-222-6

Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge