Am Ende der Schonzeit
Jüngst haben einige Publikationen bewiesen, etwa Ulrich Schachts „Bell Island im Eismeer“ oder die Reclam-Anthologie „Gespräch über Bäume“, daß ein Autor längst nicht mehr automatisch diskreditiert ist, wie noch vor zehn, fünfzehn Jahren, wenn er sich die Natur zum Thema nimmt. Auch ist es keineswegs mehr notwendig, die Natur nur noch aus ironisch gebrochenem Blickwinkel zu beschreiben, ihr alle Schönheit auszutreiben oder den, der sie mit interesselosem Wohlgefallen betrachtet, unangemessener — das heißt: fehlender kritischer — Gefühle zu bezichtigen. Jenseits ökologischer Modeerscheinungen wird der Naturbegriff inzwischen zum Glück wieder differenziert betrachtet, und das Urbane ist keineswegs die einzig anerkannte Lebensart. Die amerikanische Dichterin Denise Levertov hat einmal festgestellt, daß Alles zum Inhalt des Gedichts werden könne, wenn es nur gut gemacht sei. Und ein wunderbares Beispiel, auf welche Weise das Naturgedicht durchaus modern ist und sich künstlerisch auf der Höhe der Zeitgenossenschaft bewegen kann, liefert nun Esther Kinsky in ihrem neuen, kleinformatigen, sehr hübsch gestalteten „Naturschutzgebiet“.
Kinsky kartographiert das Gelände des ehemaligen, seit dem Jahr 2000 stillgelegten Oskar-Helene-Heims in Berlin-Zehlendorf. So jedenfalls ist einer kleinen Bemerkung am Schluß des Buches zu entnehmen, welche sich auf die mitten in die Gedichte eingeschaltete poetische Photostrecke bezieht, die als ein integraler Bestandteil gelten darf, da sie nichts illustriert in dem Sinne, daß das Photo eine simple Doppelung der Lyrik ist. Deshalb weist sie vielleicht auch auf die Verortung der Gedichte selbst hin, allerdings nicht zwingend, es ist nämlich zunächst nur allgemein die Rede von einem „Gezeichneten gelände in gestundeter seligkeit der / verwahrlosung gaukelnd in der ungehegtheit / zwischen den stößen längst schon zur probe / gefällter stämme“, von einem längst bedrohten Gelände also, in dem die dezent angedeuteten jahreszeitlichen Prozesse zur vollen Entfaltung kommen.
Am ungeschlachten grün
entlang zäunlings durch
stichiges unkraut hier treibt sich
allerhand leben
herum betört vom geruch
nach brandigem gras ganz zu schweigen
von diesen warmen dünsten
vergangener sommer
Oh unwiederbringliches.
Da dieses Gelände keine endlose Erstreckung hat, wie scheinbar irgendeine grandiose Landschaft, sondern umhegt ist, stellt sich die berechtigte Frage: „Wohin / zeigt die wildnis / wohin die zähmnis?“ Oder anders ausgedrückt: Wo beginnt, was wir Natur nennen, von einem kultivierten Zustand in einen unkultivierten zu treten? Oder ist diese Unterscheidung überhaupt hinfällig — kann sich Wildnis auch auf kleinstem Raum, umgeben von Zivilisation zeigen, ein Widerstandsflecken mittendrin, eingezwängt sozusagen? Während des Jahreslaufs kollidieren Natur- und Zivilisationszeit, Wiederkehr und Vergängnis, Wachstum und Zerstörung. Und so erreicht die reine Beschreibung hier eine Dimension, in der philosophische Betrachtung sich verbindet mit metaphysischer Anmutung.
Die Sprache selbst ist dabei ein Abbild des Geschilderten. In weiten interpunktionslosen Bögen erstreckt sich das Gedicht, wie von einer, die sich mit beseelten, raumen Schritten die Umwelt aneignet, ein beinahe hymnischer Zugang, dessen Euphorie mit ungewöhnlichen Zeilenbrüchen gezügelt und manchmal infrage gestellt wird. So ist das Naturschutzgebiet, das ein schützenswertes, nicht geschütztes ist, zunächst einmal eines, das Zuflucht in der Sprache findet, die sich bald der Prosa, bald der Lyrik annähert, die sich einfacher und hoher Tonlagen bedient und altertümliche Wendungen und Neologismen gleichmaßen unterbringt. Außerdem sind die Gedichte terminologisch präzise in der Benennung von Pflanzennamen oder -bestandteilen, kompensieren diese (Schein-)Nüchternheit aber mit dringlicher Emotion. Denn dabei geht es letztlich ganz elementar um die großen alten Themen der Literatur: Schönheit, Vergänglichkeit, Umgebung.
Dahingemacht das
sonicht
gewollte sanglos doch im gekling und gezirp im
gezwitscher geschrill und gegell
letzter tropfen
Esther Kinsky bringt es zuwege, das Subjekt kaum in Szene zu setzen; vielmehr ist dessen Anwesenheit vor allem in der individuellen Sprache zu spüren, so daß die Natur zwar etwas vom menschlichen Blick und Wort Berührtes ist, der Wahrnehmende selbst aber nicht in Erscheinung tritt, sondern zurücktritt, einen Schritt hinter die Grenze der lauernden Schwülstigkeit zugunsten eines klaren, ordnenden Schreibens, das Natur aufschließt, aber nicht verfügbar macht. Das „ende der schonzeit“, das durch einen Trupp Männer eingeläutet wird, die eine gewaltsame Veränderung außerhalb des Jahreswandels bewirken, zeigt auch die Kostbarkeit des je und je beobachteten Augenblicks, der Schon-Zeit als Jetztmoment und Schon-vorbei-Zeit. Geht raus, seht selbst und spürt! scheinen die Gedichte zu rufen, und dazu genügt es, vor die Haustür zu treten: Die Naturphänomene sind überall. Deshalb sollte man diesen schmalen, ästhetisch hochbefriedigenden Band bei der nächsten Wanderung oder dem nächsten Querüberzäunegang in der Großstadt in der Tasche mit sich führen. Als eine verläßliche Seh- und Fühlschule. Als eine „Gebrauchsanweisung / für eine wildnis“.
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