Esther Kinsky geht in ihrem Roman „Am Fluss“ entlang, fotografiert, erinnert sich und wirft manches weg
Dies ist ein Roman ohne Handlung. Die Ich-Erzählerin geht an Flüssen entlang; vor allem an einem, dem River Lea, der östlich von London in die Themse mündet. Was sie anzieht, ist die dunkle Seite der Flüsse an verlassen Fabriken, wo sich der Müll sammelt, den sie beschreibt, ausführlich beschreibt und so poetisch, dass er zu leuchten beginnt wie samtene Schimmelpilze. Anfangs irrt der Leser mit ihr mit, durch fahles Unterholz, auf der Suche nach dem Warum. Spätestens nach einem guten halben hundert Seiten gibt man das Fragen auf und lässt sich mit ihr treiben, angetrieben von der schönen Sprache, von den immer wieder neuen Blicken auf schmutzig strudelndes Wasser. Doch, es gibt einige wenige Menschen, ein Kind noch im Kinderwagen und die Erinnerung an den Vater und den Rhein, wo sie wohl ihre Kindheit verbracht hat. Der Vater liebte Flüsse, allen voran den Rhein, auf allen Familienfotos ist der Rhein im Hintergrund. Das mag es sein, dass diese Flussliebe auf sie überging und die - ja Leidenschaft ist schon zu viel gesagt - die Flusslandschaften zu fotografieren, auf Polaroids, denen sie beim Werden zuschaut. Aber oft ist das nicht darauf zu sehen, was sie fotografieren wollte, die Krähe schon weggeflogen, auf die sie gehalten hatte. Oder etwas ist zu sehen, was sie gar nicht fotografieren wollte, eine Hand, die sich anbietet über sie nachzudenken. Diese Fotos gehören zum Moment, sie werden nicht in Alben gesammelt, sie kommen in den Fluss, werden auf einen Ast gepiekt. Im Buch finden sich lose gestreut einige dieser Fotos mit trostlosen Landschaften ohne Menschen. Einmal heißt es: „Postkarten, die mir die Erinnerung schrieb“ - doch das sind nicht die Fotos, die Erinnerung schreibt ihr andere Postkarten, aber auf ihnen auch nur Bilder und Zeichen, die nicht zu deuten sind. Die Fotos als Abbilder einer Realität, die jedoch beschrieben wird, schon dadurch verändert und auf den Fotos nicht das, was sie zuvor gesehen hatte. Und dass uns die Erinnerung Postkarten schickt, die ebenfalls wenig mit der gewesenen Wirklichkeit zu tun haben, ist nichts Neues. Warum also diese Fotos? Ein Realitätsverwirrspiel? Ist die Realität nur alles zusammen, das Beschreiben des Gesehenen, das Beschreiben des Bildes, die Erinnerung?
Die Erinnerungen - oder sind es die Realitäten - der Ich-Erzählerin sind sparsame Einsprengsel: An den Flüsse liebenden Vater, der verstirbt, das Kind, mit dem sie irgendwo in London lebt. Die jüdischen Bewohner ihres Viertels, wo sie die Kartons nie auspackt. Wo sie Möbel gebrauchen könnte, aber sich keines der am Straßenrand abgestellten Stücke mit in ihre Wohnung nehmen will. Sie hat Angst, dass sie in das fremde Leben hineingezogen wird, dass sie damit das eigene mit dem fremden Schicksal verbinden würde. Man ahnt, es ist die Angst, die Stücke nicht genügend mit dem eigenen Leben füllen zu können, so dass das fremde Schicksal bedrohliches Übergewicht bekommt. Hier scheint ein wenig von dem durch, was die Ich-Erzählerin antreibt. Wasser gleich Leben, das Fluss als Sinnbild des Lebens, sie aber betrachtet und listet akribisch den Abfall auf, den der Fluss mit sich führt und am Rand ablegt. Das Abgelebte, Nutzlose, dem sie sich so intensiv zuwendet, um dann das Foto wegzuwerfen, auf zur nächsten Biegung des Flusses, auf zum nächsten Fluss.
Sie schiebt, sagt die Erzählerin die Worte von einer Sprache in die andere. Sie ist also Übersetzerin wie Esther Kinsky selbst. Ist das der Motor, dass sie im Erzählen von einem Fluss an den anderen wechselt. Von der Oder an der Grenze zwischen Deutschland und Polen, zur blaugrünen Neretva zwischen Kroatien und Bosnien. Bis sie schließlich am Ganges in Indien die Flussbestattungen erlebt, und damit die Grenze zwischen Leben und Tod. Doch das sind Erinnerungs-Ausflüge an andere Flüsse. Präsent bleibt der River Lea, der in einer Stillstandphase im Leben der Erzählerin ihr Zuhause wird, die Monate, die sie dort in einem Viertel lebt, bleiben die Kartons unausgepackt, bis sie am Ende weiterzieht. Es ist, als fühle sie sich mit dem, was der Fluss an seinem Rand auswirft, solidarisch, als sei es ein Teil von ihr. Die wenigen Menschen, deren Begegnungen sie beschreibt, bleiben märchenhaft unwirklich, ein Goldsucher, der lediglich Glänzendes aus dem Fluss fischt, der König, einer Vogelscheuche nicht unähnlich, den die Krähen besuchen. Ein Kroate, der Goldzähne sammelt, der ungern die alten Klamotten in seinem rumpligen Laden verkauft, das Geld spendet er Kriegsopfern. Schließlich das Kind, das an der Mündung des River Lea in einer Nacht erblindet. Dass sie nicht selbst gesehen hat, es ist eine Geschichte, die ihr erzählt wird. Das Foto des blinden Kindes findet sich in der unwohnlichen Wohnung, es ist das erste im Buch, das einzige, das einen Menschen zeigt, das einzige, das eine Bildunterschrift erhalten hat: dem blinden Kinde. Vieles bleibt geheimnisvoll, wie diese altertümliche Bildunterschrift, die eine Widmung sein könnte. Dieses Buch ist eine Art Meditation, an einer Stelle ist von „einer Fehldrehung der Erde“ die Rede. Möglicherweise sind die 400 Seiten die Fehldrehung einer Biografie, das Aussetzen einer Biografie, es wird nicht gesagt, warum die Drehung des Lebens aussetzt, es wird nicht gesagt, warum sie mit dem Wegzug am Ende des Buches wieder einsetzt. Es bleibt viel Luft für Eigenes, man meditiert beim Lesen des Buches möglicherweise über das eigene Leben. Dieses ungewöhnliche Buch steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben