„Aber glücklich wart ihr nicht“
„Schade, dass es nicht alles nur ein Traum ist. Der Stoiker hat recht, Erfahrungen spielen eine Riesenrolle im Leben. Man wird sie nie los. Sie werden einem quasi operativ eingepflanzt.“
Beziehungen zwischen Menschen sind kompliziert. Sehr kompliziert. Man lebt miteinander, obwohl man es manchmal weder kann noch will. Scholeh, die Protagonistin von Fariba Vafis Roman „Der Traum von Tibet“, beobachtet diese komplex-komplizierten Beziehungsgeflechte innerhalb ihrer eigenen Familie, während sie verzweifelt versucht, ihren Liebeskummer zu überwinden, nachdem Mehrdad einfach aus ihrem Leben verschwunden ist.
Sie beobachtet die Beziehung ihrer Schwester Schiwa zu deren Mann Djawad und sagt: „Ihr wart einander treu, wart rechtschaffen, ehrbar und tausend andere Dinge mehr, aber glücklich wart ihr nicht.“ Der Leser begleitet das Paar mit Scholehs Blick, der gnadenlos die Untiefen dessen seziert, was gemeinhin unter dem Begriff Ehe firmiert. Eine Liebesbeziehung, soviel steht fest, ist es nicht. Auch Djawads Mutter Forough, die mit im Haus wohnt, macht diese Beobachtungen. Und sie versucht, Scholeh etwas von ihrer Lebenserfahrung mitzugeben. Doch schlussendlich muss auch sie eingestehen, dass ihre große Liebe zu Mohammed-Ali, den sie so lange umworben hat bis der bereit war, sich auf eine verheiratete Frau einzulassen, eine Lebenslüge war. Eine Verbindung, die irgendwie zwar funktioniert hat – aber eben auch nicht so richtig.
Und mittendrin sitzt Sadegh, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er, das klingt in Untertönen an, aus politischen Gründen saß. Überhaupt arbeitet Vafi so gekonnt mit Unter- und Zwischentönen, mit denen sie geschickt die in Iran herrschende Zensur umschifft, dass der Roman sich liest wie ein Monolog, in dem das Wesentliche immer knapp unter der Oberfläche schwebt. Es doch so klar zu vermitteln ist eine hohe Kunst. Sadegh also – er will weg. Weg aus seinem Leben, aus seiner Vergangenheit, aus der Familie, aus deren Malaisen er sich stets rauszuhalten versucht. Er will keinen neuen Job in Djawads Holzhandel, er will auch nicht an Liebe denken. An nichts, das ihn binden könnte. Und er ist da nicht der einzige. Auch Scholeh ist unwohl, und dass Schiwa in ihrer Ehe nicht dort ist, wo sie gerne wäre, ist klar. Vielleicht wäre Tibet besser. Man darf ja träumen...
Aber wenn Liebe nicht funktioniert, dann vielleicht Freundschaft? Oder irgendeine andere Form von Beziehung? Das fragt sich Scholeh, die fast täglich ihre Runden mit einem Taxifahrer dreht, den sie nur den Stoiker nennt – und der sich jeglicher Bindung verweigert, während sich zwischen den beiden Stück für Stück eine dialogische Intimität entwickelt.
„Die kunstvolle Anordnung der scheinbar so einfach gewählten Worte verleiht Vafis Prosa eine poetische Dimension“, schrieb Maryam Aras bei Faustkultur über den Vorgängerroman „Tarlan“, und es trifft auf „Der Traum von Tibet“ ebenso zu. Fariba Vafi zelebriert die leisen Töne auf höchst originelle Weise – etwa indem der gesamte Roman in der Du-Form geschrieben ist. Er ist das Gespräch, das Scholeh in Gedanken mit ihrer Schwester führt. So formal ambitioniert das ist, es geht auf, alles fügt sich natürlich ineinander zu einem Panorama menschlicher Schwächen und Unsicherheiten und zum ewigen Krieg der Geschlechter, der meist eher leise und subtil ausgetragen wird und dennoch bei allen Beteiligten tiefe Wunden hinterlässt.
Dass das Buch auch im Deutschen so faszinierend wie sprachlich eindringlich ist, ist der einmal mehr brillanten Übersetzung aus dem Persischen durch Jutta Himmelreich zu verdanken, die zwei von den drei hierzulande erschienenen Romanen Fariba Vafis übertragen hat. Vafi ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Irans, ihre Bücher sind dort Bestseller mit sechsstelligen Auflagen, sie hat die renommiertesten Literaturpreise des Landes erhalten. 2017 wurde sie auf der Frankfurter Buchmesse mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Wer Vafis Bücher nicht liest, verpasst große Literatur. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Übersetzungen folgen werden.
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