stets und ständig in meiner einsamkeit
Es gibt Gedichte, die nicht unabhängig von Zeit und Ort ihrer Entstehung gelesen werden können. So ist die Geschichte der Poesie z.B. reich an Texten, die in erzwungener Unfreiheit entstanden und Zeugnis über widrige Erfahrungen ablegen. Auch Mahvash Sābet hat Zuflucht in der Poesie gefunden, hat erst während ihrer Haft zu dichten begonnen. Alle in ihrem Buch „Keine Grenzen“ vorgelegten Gedichte entstanden in iranischen Gefängnissen, in denen sich die Lyrikerin seit nunmehr neun Jahren aufhalten muss.
Mahvash Sābet, geb. 1953, war einst Lehrerin im Iran und wurde nach nach der islamischen Revolution 1979 wegen ihrer Religion aus dem Staatsdienst entlassen. Sie gehört zu den sieben Mitgliedern des Bahá’i-Führungsgremiums, die am 5. März 2008 verhaftet und schließlich wegen „Spionage für Israel“, „Propaganda gegen das System“ und „Blasphemie“ zu 20 Jahren Haft verurteilt wurden. Dieses Urteil wurde von Menschenrechtsorganisationen und dem Europäischen Parlament scharf kritisiert. Eine UN-Arbeitsgruppe beurteilte das Verfahren als willkürlich, stellte Verstöße gegen die Un-Menschenrechtscharta und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte fest und forderte die sofortige und bedingungslose Freilassung – der Forderung wurde vom iranischen Regime, man muss konstatieren „wie erwartbar“, nicht entsprochen.
Der Grund der Inhaftierung ist Sābets Glaube und ihre Aktivitäten für die Bahá’i-Gemeinschaft, wie dem Vorwort des Präsidenten des österreichischen PEN, Helmuth A. Niederle, zu entnehmen ist. Die Religion der Bahá’i entstand im 19. Jahrhundert im ehemaligen Persien. Sie wurzelt im Islam, was auch der Grund für die gleich nach der Gründung einsetzende Diskriminierung und Verfolgung der Bahá’i war. Denn diese gelten im orthodoxen Islam als vom wahren Glauben Abgefallene und werden auch im heutigen Iran nicht als geschützte religiöse Minderheit anerkannt, sondern systematisch ausgegrenzt, bedroht und verfolgt. Man schätzt die Zahl der Bahá’i im Iran auf ca. 300 000 Anhänger, sie sind somit trotz allem die größte nichtmuslimische religiöse Minderheit des Landes. Die wichtigsten Heiligtümer der Religionsgemeinschaft befinden sich allerdings in Israel, etwa die Schreine der beiden Religionsgründer, der Schrein des Bab in Haifa und jener des Bahá’u’lláh in Akkon, weshalb die Bahá’i im Iran auch als zionistische Agenten diffamiert werden.
Sābet wurde unter anderem in den berüchtigten iranischen Gefängnissen Evin und Raja’i Shahr festgehalten, die beide in den Anmerkungen des Buchs näher beschrieben werden. „Keine Grenzen“ gibt Zeugnis von ihren Erfahrungen in der Haft, der Willkür tyrannischer Bestialität und körperlicher und psychischer Folter, und es thematisiert Einsamkeit, das Ringen um Würde im Ausgesetztsein und die Bewahrung der persönlichen Integrität sowie ihren standfesten Glauben.
Das vorliegende Buch erschien 2013 in englischer Übersetzung und liegt nun in der deutschen Übertragung von Helmuth A. Niederle vor. Es ist in acht Kapitel unterteilt. Sechs davon tragen das Wort Gefängnis bereits im Titel. In „Gefängnistagebuch“ wird der Alltag im Gefängnis und das Martyrium der gefangenen Frauen verdichtet, Gegebenheiten, die etwa im Titel gebenden Gedicht „Keine Grenzen“ zum Teil protokollhaft wiedergegeben werden. Doch ist gerade dieses Gedicht, das knapp zweieinhalb Seiten umfasst, auch eines der Hoffnung, als sie sich der subversiven Kraft eines Lächelns am „Ort der Trübsal“ bewusst wird:
Und deshalb lächelten wir,
in diesem höllischen Elend lächelten wir:
zu der Frau mit den Beinen, grün und blau geschlagen,
und den Verrückten mit den eiskalten Augen,
und den Kranken mit der gelben Haut,
und denen, die weder Mann noch Frau zu sein schienen,
und den Alten, die von Tod umarmt wurden
und den Hungrigen mit ihren geschorenen Köpfen,
auch den anderen,
die mit ihrer Hoffnung ihre Zähne verloren hatten,
und den Jungen mit ihren Wunden, von gelbem Eiter gefüllt,
die nach Fäulnis stanken, ...
Durch jenes Lächeln wird vereinzelt eine andere Form von Nähe möglich. Die einstige Lehrerin Sābet erzählt in diesem Gedicht vom Wunder der Alphabetisierung, die mit jenem Lächeln im Gefängnis beginnt, eine Alphabetisierung, zu der, auch dies ist thematisiert, nicht alle Analphabetinnen bereit sind.
Und ein liebes Mädchen
- das zum ersten Mal lesen lernte –
als sie sah, wie getrennte Silben
miteinander verbunden Sinn machten –
O! Wie leuchteten ihre Augen ob deren Schönheit!
Wie erklang ihr Lachen, ob deren Schönheit!
Wie schön buchstabierte sie, was sie gesehen hatte.
Den biblischen Spruch „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ verwandelt die Lyrikerin zu den Anfangsworten des Gedichts
Auge in Auge und Knie an Knie,
frei von dem, was war und was sein könnte, ...
die das Abgeschnittensein von ihren bisherigen Leben und die erzwungene räumliche Nähe der Frauen beschreibt. Jener erste Vers bildet eine Klammer, er wird am Schluss wiederholt. Etwas hat sich verändert: Ein Ansehen und Erkennen wird möglich, eine andere Art der Nähe im gemeinsamen Lesen:
Einige hatten hatten sogar begonnen, die Seiten
des offenen Buchs umzublättern, hatten begonnen zu lesen,
und sie erkannten, dass es keine Grenzen gab
zwischen dem, was gesehen, und dem, was gesagt wird.
Beides ist in Einheit verbunden.
Auge in Auge und Knie an Knie.
Die Lyrikerin gibt in den Gedichten auch anderen Kraftquellen Raum, die helfen „dieses Loch der Hölle“ zu ertragen. Da ist zum einen die Natur, etwa eine Pflanze, die sich energisch durch den Riss des Asphalts drängt, Vögel oder ein Stück Himmel, das zwischen zwei Platten aus rostigem Stahl sichtbar ist. Häufig verwendet die Dichterin Naturvergleiche, z.B. wenn sie vom „Samen des Denkens“ oder den „Tulpen des Geistes“ spricht. Auch Gedanken an früher sind oft mit beglückenden Naturerlebnissen verknüpft, etwa im letzten Kapitel, das u.a. „Zueignungen“ an ihre Schwester und ihren Mann enthält sowie an ihre verstorbenen Eltern.
Eine wichtige Kraftquelle für Mahvash Sābet ist ihr Glaube. Das Kapitel „Gefängnisandachten“ enthält Gebete, die sich an ein göttliches „Du“ wenden, Verehrung und Lobpreisung genauso Raum geben wie abgrundtiefen Zweifeln. Auch in anderen Kapiteln des Buchs sind Meditationen und Zeugnisse ihres Glaubens eingestreut, der ihr verlässliche Stütze ist und jene Voraussetzungen schafft, unter widrigen Bedingungen Mensch bleiben und anderen Frauen Empathie entgegenbringen zu können. In mehreren Gedichten erzählt sie von ihren Mitgefangenen. Das Kapitel „Fariba“ hingegen ist einer einzigen Frau, ihrer ehemaligen Gefährtin und Vertrauten gewidmet, mit der die Dichterin dieselbe Zelle teilte, ehe sie 2011 getrennt wurden. Diese Gedichte sind voll Wehmut, erinnern und betrauern den Verlust.
Nicht zuletzt wurde ihr das Dichten selbst zu einer treibenden Kraftquelle. Im Gedicht „Als sie starb“ über den Tod einer Mitgefangenen und den Wert des Lebens wiederholt die Dichterin mehrmals den Vers
und ich kann es bezeugen
Das Gedicht wird in jener geisttötenden Atmosphäre zur Dokumentation des Erlebten, Zeugnis auch der eigenen Schwächen und Stärken, manchmal in nüchterner, manchmal in äußerst bildhafter Sprache. Sābet gibt sich keiner Illusion hin, weder über ihre eigene Situation noch über die Macht der Poesie. Eine „Winzigkeit“ sei das Gedicht, da
um ein wenig Farbe auf deine Wangen zu bringen:
ein Gedicht, voller Liebe, die frisch
wie eine Mohnblume ist und ebenso schwach.
Mahvash Sābet ist im neunten Jahr ihrer Haft gesundheitlich angeschlagen. Elf weitere Jahre soll sie im Gefängnis verbringen. Sie ist Ehrenmitglied des Österreichischen PEN, dessen Writers-in-Prison-Committee sich intensiv für ihre Freilassung einsetzt. Auch Pen International hat weltweit ihren Fall aufgegriffen. Die Hoffnung auf ihre baldige Freilassung bleibt aufrecht!
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