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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

Ein kanonisch-strenges Destillat

Hamburg

In meiner Stimme schmerzt die Furche
Die tiefe Krone mit dem düsteren Licht.
(Else Lasker-Schüler)

Angst
 meine
 unsere
 und das Dennoch jedes Buchstabens
(Hilde Domin)

Wie ermittelt man, welche die „berühmtesten“ Gedichte von deutschsprachigen Autorinnen sind? Im Fall dieser Anthologie aus dem Alfred Kröner Verlag ging der (leider bereits verstorbene) Herausgeber Hans Braam streng mathematisch vor, wälzte über Jahre Anthologien aus drei Jahrhunderten und notierte, welches Gedicht wie häufig abgedruckt wurde.

In diesem Band finden sich nun die über 200 am häufigsten abgedruckten Gedichte. Im Anhang gibt es auch eine Liste mit den Anthologien, die Braams zu Rate zog (leider nicht komplett aktualisiert, da Braams vor der Fertigstellung der Endfassung verstarb). In der Liste tauchen viele Standardwerke auf, aber auch einige Überraschungen, vor allem wenn man weiter in der Zeit zurückgeht (der frühste Listeneintrag datiert auf 1693, „Curiöse Gedancken von deutschen Versen“).

Ohne Regung, die ich oft beschreibe,
Ohne Zärtlichkeit ward ich zum Weibe,
Ward zur Mutter! Wie im wilden Krieg,
Unverliebt ein Mädchen werden müßte,
Die ein Krieger halb gezwungen küßte,
Der die Mauer einer Stadt erstieg.

Sing ich Lieder für der Liebe Kenner:
Dann denk ich den zärtlichsten der Männer,
Den ich immer wünschte, nie erhielt;
Keine Gattin küßte je getreuer,
Als ich in der Sappho sanftem Feuer
Lippen küßte, die ich nie gefühlt.
(Anna Luise Karsch)

Obwohl eine solche Anthologie den Vorteil eines halbwegs (schließlich sucht man sich eigentlich nur aus verschiedensten Geschmäckern den gemeinsamen Nenner zusammen) geschmacksunabhängigen Anscheins hat, gibt es naturgemäß auch Nachteile. Vergleicht man diese Anthologie zum Beispiel mit einer anderen, mit „Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis heute“, herausgegeben von Gisela Brinker-Gabler (zunächst in den 70er Jahren bei S. Fischer, in einer neueren Version 2007 bei Anaconda erschienen), tritt klar zutage, dass eine mathematische Vorgehensweise in diesem Fall zu einem großen Ungleichgewicht führt.

Während nämlich in Brinker-Gablers Anthologie jede Autorin (die auch noch mit einer kurzen Biographie vorgestellt wird) ungefähr gleich viel Platz einnimmt, gibt es in Braams Anthologie drei-vier Namen, die sehr viel Platz einnehmen.

Wär' ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär' ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
(Annette von Droste-Hülshoff)

Die unangefochtene Erstplatzierte ist Annette von Droste-Hülshoff, zugegeben eine wichtige und zu Unrecht heute wenig gelesene Dichterin (von ihr stammte eine der (meiner Meinung nach) besten Balladendichtungen, „Die Vergeltung“, und ihre Klage herab vom Turme ist eines der wichtigsten lyrischen Zeugnisse des weiblichen Emanzipationswunsches), aber in diesem Buch ist sie tatsächlich überrepräsentiert und nimmt beinahe 50 (von etwa 190) Seiten ein.

Komm zu mir in der Nacht auf Siebensternenschuhen
Und Liebe eingehüllt spät in mein Zelt.
Es steigen Monde aus verstaubten Himmelstruhen.

Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen
Im hohen Rohre hinter dieser Welt.
(Else Lasker-Schüler)

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
(Ingeborg Bachmann)

Ebenfalls sehr präsent sind die Dichterinnen Else Lasker-Schüler (13 Seiten) und Ingeborg Bachmann (14 Seiten). Zum Vergleich: von Friederike Mayröcker und Mascha Kaléko ist bspw. jeweils nur ein einziges Gedicht enthalten. Dafür bringen es fast vergessene (durchaus auch hier zu Unrecht) Dichterinnen wie Marie Luise Kaschnitz und Ricarda Huch auf einige mehr.

Aber die Anthologie verspricht ja eine Auslese, ein klares und strenges Destillat, nicht mehr. Es war mir nur wichtig, dass man sich ein Bild von der Auswahl machen kann. Sie ist selbstverständlich trotz Ungleichgewicht nicht zu verachten (und ergänzt durch Brinker-Gablers Sammlung hat man einen ganz guten Überblick bis knapp vor der Jahrtausendwende). Beginnend bei Mechthild von Magdeburg und Katharina Regina von Greiffenberg bis Ulla Hahn, Karin Kiwus und Kerstin Hensel umfasst sie einen Zeitraum von knapp 800 Jahren; die Chronologie der Texte orientiert sich an den Geburtsjahren der Autorinnen.

Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung

Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich daß
(Marie Luise Kaschnitz)

Freundeslob und Feindestadel
Sind von zweifelhaftem Adel.
(Marie von Ebner-Eschenbach)

Trotz aller Kritikpunkte finde ich es sehr schön, dass es diese Anthologie gibt. Und es ehrt den Herausgeber Hans Braam, dass er nach seiner Anthologie „Die berühmtesten deutschen Gedichte“ noch zusätzlich diese Anthologie konzipierte, weil in der ersten sehr wenige Frauenstimmen vorkamen. Er blieb seiner Methode treu und hinterfragte sie dennoch.

Viele dieser Gedichte sind nicht zu Unrecht oft wieder abgedruckt worden. Es sind, gerade in der Neuzeit, nicht immer die besten oder besser gesagt: ambitioniertesten Gedichte der jeweiligen Autorinnen. Aber die bekanntesten wohl schon, das ist schwer zu leugnen. Viel Schönes, viel Klassisches, viel Nostalgiefarbenes, wenig Überraschungen. Wem das nur Recht ist, der hält eine schöne Gedichtanthologie in Händen.

Musik bewegt mich, daß ich dein gedenke,
So will auch Meer und Wolke, Berg und Stern,
Wie anderer Art als du, dir noch so fern,
Daß ich zu dir das Herz voll Andacht lenke.

Kein edles Bild, das nicht mein Auge zwinge,
Von dir zu träumen, kein beseelter Reim,
Der nicht zu dir Erinnern führe heim -
Geschwister sind sich alle schönen Dinge.
(Ricarda Huch)

Wir ließen uns sacht die Monde hinunter
und läge die erste Rast noch bei den wollenen Herzen,
die zweite fände uns schon mit Wölfen und Himbeergrün
und dem nichts lindernden Feuer, die dritte, da wär ich
durch das fallende dünne Gewölk mit seinen spärlichen Moosen
und das arme Gewimmel der Sterne, das wir so leicht überschritten,
in eurem Himmel bei euch.
(Ilse Aichinger)

Hans Braam (Hg.)
Die berühmtesten deutschen Gedichte von Frauen
Auf der Grundlage von Gedichtsammlungen der letzten 200 Jahre ermittelt und zusammengestellt von Hans Braam. Mit einem Vorwort von Renate Möhrmann
Kröner Verlag
2018 · 237 Seiten · 15,00 Euro
ISBN:
978-3-520-86701-8

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