ruckediguck
„Schleuderfigur“ ist der Name eines Kinderspiels, das mir als „Figurenreißen“ bekannt war: Der Figurenreißer ist ein Zauberer, hält ein Kind an den Händen, dreht sich mit ihm im Kreis und lässt unvermittelt los. Die Fliehkraft zieht das Kind nach außen und es muss schließlich in jener Stellung verharren, in der es zum Stillstand kommt. Sobald alle Mitspielenden „gerissen“ wurden, erteilt ihnen der Zauberer Aufträge, die auszuführen sind: Stehen auf einem Bein, Liegestütze machen usw. Es stammt aus einer Zeit, in der man kaum mehr als den eigenen Körper und Phantasie für das gemeinsame Spiel zur Verfügung hatte.
Konterkariert wird dieses Kinderspiel des Titels durch den Buchumschlag. Er zeigt ein Reh, das allein in einer dunstigen Szenerie auf einer Straße steht und uns anblickt. Die Ohren gespitzt verharrt es, neugierig, noch nicht auf dem Sprung. Was sieht es? Eine Person, die still zurückblickt? Oder ein Auto, das sich nähert, dessen potentielle Bedrohung es noch nicht erfasst? Wird das Auto jäh abgebremst ins Schleudern kommen? Wird es das Reh beim Zusammenprall wegschleudern? Oder wird das Reh rechtzeitig fliehen, das Auto ausweichen können?
Eine interessante Ausgangsposition, die mich gleich einnahm. Warum allerdings der Verlag diese fein gewebten, manchmal auch durchaus derben Wortgeflechte derart reißerisch anpreist?
„... Kerstin Hensel spielt in ihren neuen Gedichten ein riskantes Spiel. Es heißt „Schleuderfigur“. Wer an diesem Spiel teilnimmt, wird aus den gewöhnlichen Bahnen seines Lebens herausgerissen und überwältigenden Gefühlen, die aus Gesellschaftsverlust, Liebe oder Tod entstehen, unterworfen. In vielfältigsten Formen versuchen Kerstin Hensels Gedichte diese extremen Lebenssituationen zu verstehen und damit der Eigenmacht der Gefühle etwas entgegenzusetzen.“
Ich habe ein anderes Buch gelesen. Das einzige richtige Wort ist „vielfältig“, das ich mir lieber vom PR-Superlativ auf ein einfaches Adjektiv zurechtstutze, weil dieses genug über die Gedichte aussagt und nicht erst groß aufgeblasen werden muss.
WER SCHREIBT DER BLEIBT
Nicht im Leben
Hängt an den Rändern
Säuft Sekt und Sepia
Hängt an den Rändern
Lehnt sich an jede
Kalte Schulter die man ihm zeigt
Hängt an den Rändern
Reimt Tracht auf Prügel
Und will auch noch dass
Man ihn liest liebt et zetera!
Hensels Gedichte sind vordergründig einfach, leicht les- und verstehbar. Auf einmal bleibt man in dieser kunstvollen Einfachheit an einem Wort oder einer Wortverbindung hängen, einem verschobenen Buchstaben, einem Vers, und plötzlich gibt das vermeintlich feste Terrain des Begreifens nach, öffnen sich tiefer liegende Schichten, die zu Irritation führen, einem anderen Verstehen. Hensels Sprache ist nüchtern, manchmal geradezu spröde, vor allem aber mit trockenem Humor durchsetzt. Hin und wieder kalauert es gewaltig. Die Lyrikerin scheut auch vor Derbheiten nicht zurück, die Szenerien Authentizität verleihen. Und im nächsten Text wiederum verbindet sie ihre Worte dezent zu zarten Geweben. Einige ihrer kürzeren Gedichte gleichen aphoristischen Merksätzchen:
ICH WARTE AUF DAS WAS NICHT KOMMT
Wie’s gekommen ist darauf hab ich nicht gewartet
Es liegt mein Weg mir im Weg
Das Glück tritt die Bremse wenn’s startet.
Dieses Gedicht könnte als Computerausdruck an eine Wand gepinnt oder Stickerei auf dem Tuch einer Vorzimmerkommode sein. Und nein, um dies für alle VerächterInnen gestickter Tischwäsche klarzustellen, es ist nicht als Herabminderung gemeint, sondern ich lese dieses Gedicht als zeitlose Weisheit, als nihilistische Bestandsaufnahme von Lebenserfahrungen, ein kompaktes Fazit der Ausweglosigkeit. Ein trockener Kommentar, Lakonie, die schmunzeln lässt und geeignet ist, an den Erfahrungen eines Gegenübers anzudocken. Ein Text auch, der immer wieder gelesen werden kann, vielleicht als Mahnung, vielleicht als zündenden Funken für ein Dennoch oder ein Jetzterstrecht.
Die Gedichte sind in fünf Kapitel gegliedert. Ihre Länge variiert, Vierzeiler stehen neben bis zu knapp eine Seite messenden Texten, gereimte neben ungereimten, streng rhythmisierte wechseln mit freirhythmischen Gedichten. Hensels Texte sind reich an Bildern, vor allem aber webt sie einen Schatz an Zitaten und Verweisen ein. Herausgreifen möchte ich ihr „Zitieren“ von Kinderreimen und Liedern, die früher selbstverständlicher Teil des Lebens waren, für ein gemeinsames Singen bestimmt oder das Spiel mit einfachsten Mitteln, zu denen u.a. Abzählreime oder Beschwörungsformeln gehörten. Bei geselligen Zusammenkünften wurde gesungen und diese Lieder prägten Generationen, waren Teil auch noch jeder Kindheit in den 60-er, 70-er Jahren, Hensels Generation. „Auf der Mauer, auf der Lauer“, „Jetzt fahrn wir übern See“ oder „Eine Bootsfahrt, die ist lustig“ werden genauso Material für ihr Dichten wie Spiele, z.B. „Schere, Stein, Papier“. Wir finden Anklänge an und Rückbezüge auf jene kindlichen Prägungen in zahlreichen Texten, doch ohne jedwede Nostalgie, ohne Heraufbeschwörung einer seligmachenden Volkstümlichkeit zwischen Tracht und einer Tracht Prügel. Hensel greift die bekannten Zeilen auf, bricht sie in der Konfrontation mit dem Heute, fragmentiert, zersplittert sie, fügt neu, collagiert und überzeichnet und erzeugt damit überraschende Reibungen und Assoziationen, selbst dann, wenn sie ihre Worte wieder zurück in die poetisch wenig zeitgemäße Form von Auszählreimen gießt.
Das erste Kapitel trägt den Titel „Vorhang“ und enthält Gedichte zum Thema Tod und Sterben. Es beginnt mit einem Nachruf auf Rolf Haufs, enthält Vorausblicke auf das (eigene) Enden, Gedichte auch, die kleine Geschichten erzählen, etwa vom Vorher und Nachher, wenn der vertraute Mensch nicht mehr am Leben ist.
Das zweite Kapitel „Durchgehen ja! gelöster Saum“ beginnt mit kritischen Kommentaren zum Kulturbetrieb. Lustvoll böse etwa das Gedicht „Vernissage“, in dem Hensel die Atmosphäre auf einer ebensolchen beschreibt.
Lüftchenmalerei aus der Peripherie
Der Frühphase der KünstlerinDa stehen sie alle und wissen
Sich zu bedienenDie Rede des Vertreters des Zeitalters
Revival der Monokelkultur mit Förderung
Aus gendergestützten Haushaltsmitteln des BundesAch was Sie nicht sagen
Die Gattin von dem Gatten mit der Gattin der
Gattungsübergreifende Einschlag
In diesem Abschnitt sind auch Erinnerungstexte zu lesen z.B. zu Bert Brecht und Volker Braun, zwei von Hensels Lieblingsdichtern, zu Christine Lavant, dem Haus Wiepersdorf (Bettina von Arnim und Sarah Kirsch), und Gedichte, die sich mit dem eigenen Schreiben auseinandersetzen.
Das dritte Kapitel „Mir eine Szene machen“ schlägt Brücken zum Theater und zur dramatischen Kunst. Hier gibt es Gedichte zu Dantes Göttlicher Komödie, Shakespeare (Ophelia, Romeo und Julia), zu Legenden der griechischen Mythologie und zu Ovids Metamorphosen, Sappho und Epikur, aber auch zum Grimm’schen Märchenschatz.
Im 4. Kapitel „Schleuderfigur“ lesen wir verfremdete (Kindheits)Erinnerungen, Kämpfe im Alltagsleben, Geschichten aus dem engen Kreis der deutschen Familie, über Vorfahren, Kriegsheimkehrer, DDR und Heimatkunde. Einige der Gedichte setzen sich mit tagesaktuellem Geschehen auseinander, etwa mit Lampedusa, „Merchandising“, oder Sextourismus.
Das fünfte Kapitel ist ein Sammelsurium verschiedenster Texte, die zwischen Enten und Lurchen, Heintje und Tschaikowski, Welschem Wetter und Gaunerjuni, hemmungslosem Genuss und Weltuntergang Schönheit feiern oder die Ratlosigkeit verdichten, wie mit sich selbst und den anderen umzugehen sei. „Das Dorellenquartett“ oder eben erwähntes „Welsches Wetter“ dürften Endprodukt eines so feuchtfröhlichen wie kurzweiligen Abends im Freundeskreis sein. Daneben das Gedicht „Übers Land“, das an Zwangsarbeiter in Sauersack (dem tschechischen Rolava) erinnert.
Nicht alles ist geglückt. Das eine oder andere Gedicht wirkt platt. Eine Zeile wie „Pussy-Terror in high heels“ lässt mich irritiert zurück, denn das Wort „Pussy“ ist besetzt, passt heute nur zu Pussy-Riot und deren Aufsehen erregende Aktionen mit dem Totschlagwort „Terror“ zu punzieren, erscheint mir schlicht abwegig. Und doch bleibt der Eindruck eines überwiegend originellen, vergnüglichen Buchs zurück, in dem die Autorin nicht zuletzt sich selbst und ihr Tun mit doppelbödig ironischem Blick betrachtet:
Zugfahrt mit Genius
Ich schaue aus dem Fenster
Das Land ist kein Gedicht
Schon fährt mein Glück gebremster
Und nichts reimt sich auf mich.
Fixpoetry 2016
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