Die überdehnte Triebfeder des Romans
Auch nach 340 Seiten komme ich mit diesem Buch zu keinem Ende. Und im Grunde kann man den Autor dazu beglückwünschen. Jakob Noltes zweiter Roman Schreckliche Gewalten wirkt und wirkt nach. Ein fast durchweg hochunterhaltsamer Irrsinn und das, obwohl seine Figuren unsympathische, ganz und gar uninteressante Nihilistenhipster sind.
Der Plot ist entweder schnell angerissen oder man verfängt sich beim Versuch, ihn in einer Besprechung unnötigerweise nachzuerzählen. Nur so viel: Hilma Honik lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen Kindern Iselin und Edvard ganz in der Nähe von Bergen in Norwegen. Es ist das Jahr 1973. Hilma verwandelt sich eines Nachts in einen Werwolf bzw. eine Werwölfin, wenn es so etwas gibt, und tötet ihren Mann. Die zwanzigjährigen Geschwister verlassen daraufhin auf getrennten Wegen das Nest, um in die Welt zu ziehen und terroristische Vereinigungen zu gründen. Was dann folgt, ist eine Story und keine Story voller verschwenderischem Ideenreichtum und überdrehter Absurdität. Ein intelligenter Genremix aus Horror, Thriller, Roadnovel oder doch nur ein postmodernes Heißluftgebläse? Einem Urteil gegenüber scheint der Text jedenfalls resistent zu sein, denn sein Autor hat ihm diese distanzierte Hipsterironie eingeschrieben, die so herrlich gleichgültig und unangreifbar macht. Warum auch nicht?
Vielleicht, weil damit hin und wieder eine gewisse Selbstverliebtheit einhergeht, die zu affektierter Klugscheißerei führt. So ist Noltes Roman durchsetzt mit unterhaltsamem, aber, vor allem für den Roman, unnützen Wissen über Astronomie, Physik und dergleichen. Und diese Exkurse enden dann auch mal so:
„Bis Blaise Pascal 1647 ein weiteres Experiment durchführte, das aber sauschwer zu erklären ist und den wunderbaren Titel vide dans le vide (die Leere in der Leere) trug. So wurde der aristotelische Glaube an die Verneinung des Nichts Jahrhundert um Jahrhundert weiter entlarvt.“
Dass der Inhalt von Schreckliche Gewalten streckenweise zweitrangig daherkommt, soll aber nicht zwingend zu dessen Nachteil ausgelegt werden. Denn Nolte geht es eindeutig um etwas anderes, wesentlicheres, nämlich die Frage, wie um alles in der Welt man heutzutage noch einen Roman schreiben kann. Diese Frage ist die eigentliche, etwas überdehnte Triebfeder des Textes. Mit parallelen Handlungssträngen, zahlreichen Figuren und sogar so etwas wie einem auktorialen Erzähler (Kein Angst! Thomas Mann bekommt auch sein Fett weg. Natürlich.) fährt Nolte im Grunde recht klassisch-modernes Romanrepertoire auf. In der zunehmenden erzählerischen Verschachtelung der Ebenen liegt dann aber der eigentliche Reiz des Romans. Das Verfahren erreicht einen ersten Höhepunkt, als ein Absatz mitten im Satz abreißt und in einer eingeschobenen, über 40 Seiten umfassenden Klammer eine (Neben-)Figur eingeführt wird, um dann in den ursprünglichen Satz zurückzukehren. Spätestens hier fällt der Groschen, wie man so sagt. Alles zulassen! ist die Devise dieses Erzählens. Mit dem vollen Bewusstsein dessen, was Pynchon, Kracht & Co. schon so alles ausprobiert haben. Und vor allem: wo sie gescheitert sind. Daher dieses unangenehme Gefühl, dass Nolte weiß, dass seine Figuren vielmehr 2017 sind als 1973. Dass seine Exkurse in den Text gegoogelt wirken – auch die fingierten. Dass diese ganze Erzählhaltung aus einer akademischen Überlegenheit heraus irgendwie unangenehm ist, aber eben doch funktioniert.
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