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Kritik

Das schwerelose Zwischenreich des Archivs

Judith Schalansky verzeichnet einige Verluste
Hamburg

Naheliegend ist es angesichts des neuen Buches von Judith Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste, erst einmal an ein früheres Werk der Autorin zu denken, an den Atlas der abgelegenen Inseln. Denn wie schon in ihrem 2009 erschienen Bestseller nimmt die Autorin ihre Leser zunächst auf eine entlegene Insel mit, genauer auf den Pazifik-Atoll Tuanaki. Dieser ging wahrscheinlich um den Jahreswechsel 1842/43 nach einem Seebeben unter, wurde aber erst 1875 von den Karten getilgt. Für ca. 30 Jahre war das Atoll also sowohl verschwunden als auch, zumindest theoretisch, auffindbar. Diese archivarische Dualität von Finden und Verschwinden ist eines der Hauptmotive in Schalanskys Buch, das sich eben nicht allein mit Phänomenen und Objekten des Abhandenkommens, sondern auch mit unverhofften Wiederentdeckungen, wie etwa Fragmenten zweier bisher unbekannter Sappho-Gedichte, beschäftigt. Dass sich aus dieser Dualität ein nonlineares Geschichtsverständnis ableiten lässt, demnach also nicht alles zwangsläufig dem Verlust und Verfall anheimfällt, sondern potentiell alles wiederkehren und wiedergefunden werden kann, ist ein zweites Hauptmotiv, das sich durch dieses Verzeichnis zieht. Das „schwerelose Zwischenreich des Archivs“ nennt Schalansky diesen Zustand im Buch.

Ihr Verzeichnis von zwölf Texten à 16 Seiten ist formal und buchgestalterisch streng geordnet. Jedem Text ist eine Grafik auf schwarzem Papier vorangestellt, die ihr Motiv erst erkennen lässt, wenn sie im richtigen Winkel gegen das Licht gedreht bzw. ins richtige Licht gesetzt wird. Diese gestalterische Raffinesse ist vielleicht so etwas wie der Brückenschlag zwischen der angesprochenen formalen Strenge des Buchaufbaus und der vollkommenen literarischen Freiheit innerhalb der Texte. Denn Schalansky erzählt von den ausgewählten Verlusten jeweils so, wie es dem Gegenstand angemessen erscheint, was das Buch nicht nur zu einer Sammlung allerlei faszinierender Abseitigkeiten und Kuriositäten macht, sondern auch zu einer Anthologie der Spielformen des Erzählens. Den zwölf Gegenständen des Verzeichnisses wird so einen dreizehnten hinzugefügt, die Frage nach der Art des Überlieferns.

Konkret bedeutet das, dass Schalansky zum Beispiel mithilfe erlebter Rede Greta Garbo inszeniert und so einem ganz und gar divenhaften Abgesang auf Friedrich Wilhelm Murnau, den Stummfilm und das alte Hollywood entwickelt. Garbo, die nach ihrer letzten Rolle im Jahr 1941 schon zu Lebzeiten zu einem Archivstück wurde, anwesend und abwesend zugleich, lange auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob und wann ihr Leben als Schauspielerin ein Comeback verdient.

„Wie Murr hätte sie es machen müssen. Alles verkaufen und für immer verschwinden. Es hätte ja nicht gleich die Südsee sein müssen. Dass er wiedergekommen war, bedeutete sein Ende. Ein Lastwagen auf der Gegenfahrbahn, eine Böschung. Alle anderen waren unverletzt, der Chauffeur und der kleine Filipino, der am Steuer saß. Der Schäferhund war einfach weggerannt. Wahrscheinlich irrte er immer noch durchs Valley. Murrs schöner Hinterkopf, völlig zerquetscht. Davon war aber nichts mehr zu sehen, als er dann dalag im Funeral Salon, im grauen Anzug, das edle, hochmütige Gesicht grell angemalt wie eine alte Berliner Tunte. Ein spindeldürrer, aufgetakelter Kadaver zwischen Kränzen und Kreuzen aus Gardenien. Selbst Tote wurde an diesem Ort geschminkt wie für Technicolor.“

Während Schalansky an ihrem Buch arbeitete, klauten Unbekannte Murnaus Leiche den zerquetschten Schädel. Vielleicht wird er auf unabsehbare Zeit ebenso verschollen bleiben wie sein womögliches Filmdebut Der Knabe in Blau von 1919. Immerhin 35 kurze Fragmente des Streifens sind der Berliner Kinemathek bekannt; nach sapphischen Maßstäben also fast ein Füllhorn.

Doch nicht nur auf das Erzählen vom Verlust, sondern auch auf die Rekonstruktion versteht sich die Autorin bestens. So lässt sie u.a. den Schweizer Büroangestellten Armand Schulthess detailliert berichten, welche Schätze der Nachwelt verlorengegangen sind, als seine Erben den Großteil seiner Sammlung verbrannten und entsorgten, seine liebevoll gestaltete Gartenanlage zerstörten. Nicht weniger als das gesamte Wissen der Menschheit wollte Schulthess im Laufe seines Lebens zusammentragen und abbilden. Auf unzähligen Tafeln notierte er das Recherchierte und befestigte diese an den Kastanien seiner Wald-Enzyklopädie, immerhin einem Grundstück von 18 Hektar. Von den darüber hinaus entstandenen, selbstgemachten und wahrscheinlich reich collagierten Büchern haben sich nur drei erhalten. Was seine ca. 70 selbsterarbeiteten Bände zur menschlichen Sexualität enthielten, bleibt Spekulation; schönste literarische Spekulation.

Der Begriff der psychosexuellen Verkehrtheit muss mit Vorsicht verwendet werden. Jede Abnormität wurzelt im Normalen. Und jede Normalität hat auch einen Funken Abnormität. In jedem Perversen steckt ein winziger Rest Normalempfinden. Was ist schon pervers? Ein Mann sieht nun einmal in Frauenstrümpfen viel eleganter aus als mit Socken an Haltern.“

Doch nicht nur mit Mitteln der Fiktion geht Schalansky den recherchierten Verlusten nach. So beschreibt die Autorin etwa mehrere Wanderungen und Streifzüge in ihrer Kindheitslandschaft um Greifswald. Entlang des Rycktals spürt sie der Landschaft aus einem zerstörten Gemälde Caspar David Friedrichs nach. In detaillierten wie empathischen Naturbeschreibungen nähert sie sich hier stark dem nature writing an, wie es durch die von ihr herausgegebene Reihe Naturkunden im Verlag Matthes & Seitz auch in Deutschland populär wurde.

Durch die erzählerische Formenvielfalt, die nie willkürlich ist, sondern immer mit Bedacht eingesetzt wird, und die durchdachte Gestaltung des Buches wird Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste zu einem Leseerlebnis mit Mehrwert auf unterschiedlichen Ebenen. Dass die Autorin noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin dafür mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet wurde, ist mehr als verständlich.

Judith Schalansky
Verzeichnis einiger Verluste
Suhrkamp
2018 · 252 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42824-5

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