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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Gebeizt, gedrechselt und geschraubt

Ein umfangreicher Prachtband präsentiert erstmals die gesammelten Pilzaquarelle von Jean-Henri Fabre (1823-1915)
Hamburg

Die beeindruckende Vielfalt in der Welt der Pilze erweckt nach wie vor die Phantasie ihrer Betrachter. Im Volkslied „Ein Männlein steht im Walde“ inspirierte ein rätselhafter Geselle die Kindheit ganzer Generationen. In seinen Tagebüchern versucht Ernst Jünger der Frage nachzugehen, warum der Anblick von Pilzen in besonderer Weise die menschliche Neugier berührt:

„Den Pilzen, nicht nur den eßbaren, wurde von jeher besondere Aufmerksamkeit zuteil. Sie fordern schon durch ihre Erscheinung dazu heraus. Der Pilz hat Körper, hat Kopf und Fuß, die ihn auf einfachste Weise als Individuum abgrenzen. Daher die heitere Überraschung, wenn unser Blick im Dickicht oder im Hochwald auf eine Gruppe von Pilzen fällt. Da spricht uns Verwandtes auf niederer Stufe an“.

Im vorliegenden umfangreichen Band liegen mit nahezu 700 Pilzstudien erstmals alle erhalten gebliebenen Pilzaquarelle des französischen Naturforschers und Schriftstellers Jean-Henri Fabre gesammelt vor.

Bekannt geworden ist Jean-Henri Fabre vor allem mit seinen „Erinnerungen eines Insektenforschers“[»Souvenirs entomologiques«], in welchen er seine Erkenntnisse über die Welt der Insekten festgehalten hatte. Über viele Jahrzehnte hinweg hatte er sich in minutiösem Studium den Insekten gewidmet und seine Ergebnisse fortlaufend veröffentlicht.

Jean-Henri Fabre hatten es aber auch die Pilze angetan. Seine Methode der unmittelbaren Feldforschung hatte ihn nie dazu verleitet, seine Erkenntnisse in trockenen wissenschaftlichen Abstraktionen darzustellen. Gerade seine Pilz-Aquarelle vermitteln in anschaulicher Weise die eigentümliche Atmosphäre seiner Forschungsmethoden. Es ist jene unverwechselbare Mischung von wissenschaftlicher Kenntnis und plastischer, ja poetischer Darstellung des Beobachteten, die den Leser seiner Texte wie den Betrachter seiner Bilder in ihren Bann zieht.

Anita Albus gelingt es in ihrem fundierten Vorwort „Pilzpanorama“ auf meisterhafte Weise, eben jenen für Jean-Henri Fabre charakteristischen Spannungsbogen phantasievoller wie auch unmittelbarer Wahrnehmung mit kultur- und naturgeschichtlichen Rückschlüssen zu verbinden. Angeregt von einer Notiz Fabres listet sie darüber hinaus ein angedeutetes Spektrum von Gerüchen bei Pilzen auf:

„…nach frischem Mehl duftende oder nach verdorbenem, nach Anis, Obst, Kokosflocken, Apfelkompott, wie Juchtenleder riechend, wie Rettich, Rüben, rohe Kartoffeln, Lauch oder stinkend wie Heringe, verfaulter Kohl, Chlorwasser, Leuchtgas, Karbol oder Aas“.

Fabres Art des Beobachtens und Forschens hatte nicht nur Maßstäbe für nachkommende biologische Studien gesetzt, sondern auch zahlreiche Künstler und Schriftsteller angeregt.

Zeitlos präsentieren sich in den Aquarellen die Farben und die Formen der dargestellten Pilze. Ihre realistische Präsentation läßt sie zuweilen berückend und wunderlich, aber auch lasziv und schlüpfrig erscheinen. Nicht Fisch nicht Fleisch aber auch nicht Pflanze irritieren diese wundervollen Gebilde zumal in den spätsommerlichen Wäldern. Gebeizt, gedrechselt, geschraubt, gestreift oder auch schraffiert – beeindruckend sind neben der Formenvielfalt die Farbkompositionen, die sich in manchen Fällen an das natürliche Umfeld anpassen, zuweilen aber auch ganz im Gegenteil es in geradezu provokativer Weise unternehmen, auf sich aufmerksam zu machen. Neben der klassischen Darstellung eines Pilzes als Schirm finden sich als Formen von Verkörperungen auch Becher, mit zarten Zacken übersäte Knollen, Medusen, Quallen, feinste Stecknadeln mit Köpfchen oder schlanke Trompeten.

Wertvolle Aufschlüsse über Fabres Wissensstand und Erfahrungen mit Pilzen, sowie über den Verbleib seiner naturkundlichen Sammlungen wie auch der vorliegenden Aquarelle vermittelt das Nachwort „Vergängliche Schönheiten“ von Anne-Marie Slézec. Vor-und Nachwort wie auch der ausführliche Index sind zu Ehren von Jean-Henri Fabre sowohl in deutscher wie in französischer Sprache wiedergegeben.

Jean-Henri Fabre · Judith Schalansky (Hg.)
Pilze
Mit einem Vorwort von Anita Albus und einem Nachwort von Anne- Marie Slézec
Matthes & Seitz
2015 · 615 Seiten · 148,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-031-4

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