Kritik

Er liebte die Bäume und alles, was wild ist

John Muirs Hauptwerk „The Mountains of California“
Hamburg

Das Genre des Nature Writing ist im deutschsprachigen Raum nicht nur dem Begriff nach ohne Entsprechung. Es gibt große Autoren, die, wie Alexander von Humboldt oder auch Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Studien, einen kulturwissenschaftlich und ästhetisch grundierten Blick auf die Natur werfen, die nicht reine Positivisten oder Materialisten sind, sondern das große Ganze der Schöpfung feiern – aber im angelsächsischen Raum geht die Naturerkundung und -beschreibung eine ganz eigene, weit darüber hinausreichende Verbindung mit religiösen Vorstellungen und Gefühlen, mit einer Beseelung alles nicht von Menschenhand Geschaffenen ein.

Viele der Kolonisten, die nach Amerika auswanderten, waren Anhänger freireligiöser Gemeinschaften, Unitarier oder Anhänger der Erweckungsbewegung, die sich von den institutionalisierten Religionsrichtungen gelöst hatten. Für sie offenbarte sich Gott nicht nur in der Bibel, sondern ebenso in der Natur, sie war unmittelbarer Ausdruck göttlicher Erhabenheit und Schönheit. Aufgenommen werden konnten, glaubten sie, Gottes Wort wie Gottes Schöpfung ohne Umweg über das Wort und die Schrift, durch Sinne und Herz; die Überbetonung des Verstandes, wie sie Materialismus und Rationalismus betrieben, sollte durch reine Anschauung und Erleben überwunden werden.

Für die allmählich sich entwickelnde, sich von den europäischen Einflüssen befreiende amerikanische Literatur war diese Glaubensrichtung von entscheidender Bedeutung. Insbesondere die aus den religiösen Überzeugungen sich speisende Philosophie des Transzendentalismus, wie sie von Ralph Waldo Emerson im Weiterdenken des deutschen Idealismus und der Transzendentalphilosophie vertreten wurde, war für die erste Generation amerikanischer Dichterinnen und Schriftsteller, darunter Walt Whitman und Emily Dickinson, Herman Melville und Nathaniel Hawthorne, prägend. Und natürlich für Henry David Thoreau, dem Urvater allen amerikanischen Nature Writings. Er war mit Emerson nicht nur eng befreundet und in regem geistigem Austausch, er bekam von ihm auch das Grundstück am Walden-See bei Concord zur Verfügung gestellt, auf dem er dann seine berühmte Blockhütte baute. In ihr lebte er fast zwei Jahre inmitten der Natur, streifte umher, beobachtete Pflanzen und Tiere, züchtete Erbsen und machte seine Aufzeichnungen für das überaus einflussreiche, bis heute berühmte Buch Walden or Life in the Woods.

Es vereinte bereits alle Elemente, die das Nature Writing ausmachen: Naturbeschreibung, Erlebnis und Reportage, Abhandlung zur Naturgeschichte, philosophischen, kulturgeschichtlichen, soziologischen Essay, Bericht, Autobiographisches, Ökologisches, Pädagogisches, Gedanken über Wirtschaft, Religion und Gesellschaft  – und das alles entnommen aus dem Leben, Empfinden und Nachdenken an einem Ort, der als irdisches Paradies und Meditationsort, dabei jedoch keinesfalls als exotisch empfunden wird, sondern durch langen, alltäglichen Umgang, durch wiederkehrende Erkundungen, Beobachtungen in verschiedenen Wettern und Jahreszeiten mehr und mehr vertraut geworden ist.

Der Fachbegriff für diese Art der dokumentarischen Beschreibung lautet deep mapping – Tiefenlotung eines überschaubaren Areals unter allen denkbaren Aspekten und unter Einbeziehung aller möglichen Subgenres: persönliche Erinnerungen, Erfahrungen, Gespräche, Überlieferungen, Beschreibungen gehen Hand in Hand. Der Rückzug ist nicht Zivilisationsflucht, sondern erlaubt, durch das Wahrnehmen der Erhabenheit und Schönheit der Natur, eine Vertiefung des Einblicks in die eigene Existenz und eröffnet dadurch einen freieren Umgang mit der Um- und Mitwelt.

Ein großer Verehrer Thoreaus war John Muir. Knapp zwanzig Jahre nach diesem, 1838 im schottischen Dunbar geboren, wuchs er mit sieben Geschwistern unter einem strenggläubigen Vater auf, der Getreide- und Nahrungsmittelkaufmann war, sich aber mehr und mehr von der Erweckungsbewegung angezogen fühlte. 1849 wanderte er mit der Familie nach Wisconsin aus, wo er eine Farm betreiben wollte. So kamen bei Muir in frühester Kindheit, im Alter von elf Jahren, die beiden Elemente zusammen, die für das Natural Writing von so großer Bedeutung waren: das tägliche Lesen der Bibel (Muir konnte sie bereits als Kind nahezu auswendig) wie das freie Umherstreifen in der Natur. Denn in Wisconsin gab es zunächst weder Schule noch Zäune noch dichte Besiedlung, und so erhielt er, wie er später in seiner unvollendet gebliebenen Autobiographie „Story of My Boyhood and Youth“ schrieb, seine „Taufe im warmen Herzen der Natur“.

Ans Schreiben dachte Muir da noch nicht. Zunächst arbeitete er auf der väterlichen Farm – der Vater hatte sich alsbald als Wanderprediger auf und davon gemacht –, dann zog er, um der Einberufung zu entgehen, nach Kanada, bestritt seinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Gelegenheitsjobs, unter anderem als Stellmacher und Sägewerker. Während der Arbeit traf ihn ein Werkzeug im rechten Auge, das Kammerwasser lief aus, woraufhin auch das linke im Mitleidenschaft geriet und Muir fürchtete, zu erblinden – und die Schönheiten der Welt nie wieder zu sehen.

Einen Monat lang geschah nichts, Muir lebte in vollkommener Schwärze. Als das Augenlicht allmählich zurückkehrte, erschien Muir der Unfall wie eine göttliche Prüfung, die Heilung wie ein Wunder: Er konnte nicht nur wieder sehen, sondern war zu einem neuen Leben erweckt. Und er beschloss, von jetzt an sich selbst treu zu sein und seinem Traum zu folgen: umherzuziehen und die Natur zu erforschen.

Erste Erfahrungen im Naturstudium hatte er bereits während eines kurzen Ausflugs an die Universität von Wisconsin mit Anfang zwanzig gemacht; dort hatte er seine erste Botanikstunde unter einer Robinie erhalten, und dort hatte er den Chemieprofessor Ezra Carr und seine Frau Jeanne kennengelernt. Mit beiden blieb er lebenslang befreundet, und Jeanne Carrs Vorschlag, einmal das Yosemite Valley in Kalifornien zu besuchen, folgte er jetzt, nach dem Unfall.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Eine Woche streifte er durch das Tal, und er wusste, die Sierra Nevada war für ihn das Paradies auf Erden. Auch seine späteren Reisen nach Alaska, Europa, Südafrika und Südamerika änderten nichts daran. Die kalifornischen Wälder, die Berge, die Wasserfälle, die Bienenweiden hatten ihn ergriffen. Während seiner ersten Wanderung steckte er in Hill’s Ferry am San Joaquin River eine Fläche von rund 84 Quadratmetern ab und zählte: 7260 Blüten, Tausende Gräserrispen, eine Million Moose.

Eine kaum vorstellbare Zahl. Unerschöpflicher Reichtum. Und doch: diese unglaubliche Fülle war in Gefahr. Denn der aus Europa eingewanderte Mensch lebte nicht mit der Natur, sondern von ihr. Muir selbst beobachtete, als er kurz darauf, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, in der Sierra als Schafhüter zu arbeiten begann, wie die Holzfäller die unermesslichen Wälder mit den riesigen Tannen, Kiefern, Douglasien, den Jahrtausende alten Mammutbäumen fällten, wie die Schafherden die Wildnis kahl fraßen.

Sein Wunsch, die Natur, die Welt der Sierra zu erforschen, bekam so einen zweiten Impuls: Er hatte ihre Zerstörung vor Augen, er wollte sie schützen. Und er konnte sie umso besser schützen, je mehr er sie verstand – und anderen ihre einzigartige Schönheit, ihre Verletzlichkeit und Kostbarkeit beschrieb und erklärte. Er begann mit Aufzeichnungen zu Pflanzen, Tieren, Wolkenbildung, Niederschlag, untersuchte die Gletscher, entwickelte seine eigene Theorie, wie sie die Landschaft geformt hatten, er studierte die Wirkung von Schnee und Feuer, wie umgestürzte Bäume das Wasser stauten und so Moore schufen, die allmählich verlandeten und sich in die Wiesen verwandelten, auf denen eine unfassbare Fülle von Gräsern und Blumen gedieh, die von ihm besungenen Bienenweiden.

Es ging darum, die Menschen zu erreichen, die diese Berge nie gesehen hatten und aller Voraussicht nach niemals sehen würden, es ging darum, ihr Herz für sie zu erobern. Nur so konnten sie, gegen die Interessen der Holz- und der Schafindustrie, gerettet werden.

Muir fiel das Schreiben ungeheuer schwer. Henry Fairfield Osborn, ein befreundeter Zoologe, erzählt, dass Muir jeden Tag gegen halb fünf aufgestanden sei und sich nach einem Becher Kaffee an die Arbeit gemacht habe. Jeder Absatz, jeder Satz, jedes Wort wurden einer strengen Prüfung unterzogen und an die zwanzigmal geändert, ehe er sie stehen ließ. Er wollte einfaches Englisch schreiben, so wie Thoreau, dessen Bücher er für ihre Schlichtheit und Poesie bewunderte und die er immer wieder studierte. Getragen wurden seine Anstrengungen von der Liebe zur Schöpfung, von der Lebensfreude, die er auch Pflanzen und Tieren zusprach – für ihn waren sie Mitsterbliche, Mitreisende durchs All auf dem ebenso schönen wie geheimnisvollen Planeten namens Erde.

„Die Bäume, meist dreißig bis vierzig Fuß hohe Quercus Douglasii und Pinus Sabiniana mit dünnem, blassgrünem Laub, stehen weit auseinander und spenden nur wenig Schatten. Über die Felsen schlüpfen Eidechsen, erfreuen sich einer Konstitution, die keine Dürre auszutrocknen vermag, und Ameisen, deren winzige Lebensfunken umso heller brennen, je weiter die Hitze ansteigt, streifen in erstaunlicher Zahl eifrig auf der Suche nach Futter in langen Zügen umher. Krähen, Raben, Elstern – Freunde in der Not – versammeln sich auf dem Boden unter dem besten Schattenbaum und schnappen mit hängenden Flügeln und weit geöffneten Schnäbeln nach Luft, selten hört man von ihnen einen Ton in den Mittagsstunden. Auch Wachteln suchen Schatten rings um die lauwarmen Tümpel inmitten der Flussbette während der Hitze des Tages. Kaninchen huschen von Dickicht zu Dickicht zwischen den Fliedersträuchern, und gelegentlich sieht man einen langohrigen Hasen anmutig über die breiteren Lichtungen kantern. Während des Sommers sind die Nächte windstill und ohne Tau, und tausend Stimmen verkünden die Überfülle des Lebens, ungeachtet des verwüstenden Einflusses der dörrenden Sonnenstrahlen auf Pflanzen und größere Tiere. Nach Sonnenuntergang machen die Frösche eine wunderbar klare und ruhige Musik; und die Kojoten, die kleinen, geschmähten Hunde der Wildnis, tapfere, zähe Burschen, die wie welke Strohbündel aussehen, bellen stundenlang im Chor.“

Alle Lebewesen erhalten bei Muir ihre Würde – durch ihr bloßes Dasein. In seinem Essay „Wild Wool“ von 1875 schreibt er: „Bislang bin ich auf keinen Beweis gestoßen, der mir zu zeigen schien, dass irgendein Tier jemals im gleichen Maß um eines anderen Tiers willen erschaffen wurde wie um seiner selbst. (. . .) Mit der Erschaffung eines jeden Tiers wurde die Gegenwart jeden anderen Tiers anerkannt.“ Den meisten Menschen schien und scheint die Ebenbürtigkeit aller Wesen fremd, sie sind vielmehr der Meinung, die Natur müsse einen Nutzen haben, und zwar einen für sie, den Menschen. Als Naturschützer sah sich Muir daher dazu gezwungen, einen indirekten Nutzen aus dem Naturschutz für den Menschen abzuleiten: ein Wald dient dann der Erholung der Städter; die Filterung des Abwassers dem Fischreichtum, was der Küche bekommt; die Erhaltung der Atolle dem Schnorchel-Tourismus.

Muirs Kampf war zwar erfolgreich, es gelang ihm mit seinen Schriften und dem 1892 gegründeten Sierra Club, einer der ersten Naturschutzorganisationen, aus dem Yosemite-Tal einen Nationalpark zu machen, aber am liebsten hätte er die kalifornischen Berge, in denen er die Freiheit vor der „Tyrannei des Menschen“ gefunden hatte, wohl in menschenfreies Gebiet verwandelt gesehen. Die menschliche Zerstörungsgewalt führte bei ihm mitunter zu misanthropischen Zügen: „Nicht die Welt, sondern die Menschen, die in ihr leben, müssen verbrannt und neu geformt werden“, schrieb er 1868 in einem Brief. Angesichts des heute erreichten Ausmaßes an Umweltzerstörung und -verschmutzung, gleich, wohin man blickt, in die Urwälder Südamerikas oder die unvorstellbaren Weiten des Pazifiks, lässt sich ihm, traurigen Herzens, leider nur Recht geben. Ein Bewusstsein dessen, was uns bereits verloren gegangen ist und noch verloren zu gehen droht, entwickelt man, wenn man seine ergreifenden, von Verständnis und Liebe getragenen Bücher liest. Und vielleicht, hoffentlich, entwickelt sich dann die Empathie, die es braucht, um wirkliche Achtung für das uns Gegebene zu entwickeln, dessen Erschöpfbarkeit wir erkannt haben, und so den Wunsch zu wecken, es zu bewahren. Um seiner selbst willen.

 

John Muir · Judith Schalansky (Hg.)
Die Berge Kaliforniens
Aus der Reihe Naturkunden
Übersetzung:
Jürgen Brôcan
Mit einem Nachwort von Jürgen Brôcan und mit zahlreichen Fotografien in Duoton von Eadweard Muybridge,
Matthes & Seitz
2013 · 352 Seiten · 34,00 Euro
ISBN:
978-3-88221-050-7

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