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Kritik

Wir sind nur Wellen, wir wissen nichts vom Wasser

Hamburg

Es gibt eine Zeile von Keith Waldrop, die mich von Anfang an fasziniert hat, und in der für mich bis heute das gesamte Werk Waldrops enthalten ist, der Kern, um den es in seinem Denken und Dichten geht. Die Zeile befindet sich im 1997 erschienen „The Silhouette of The Bridge (Memory Stand-Ins)“, und lautet: „Wir sind nur Wellen, wir wissen nichts vom Wasser.“

In seinem Nachwort zu Waldrops 2016 erschienenen „selected poems“, bezeichnet Ben Lerner Waldrop als einen Dichter der Stille, als einen Menschen mit einer gleichzeitig sanften und unerbittlichen Skepsis, beständig  gewahr, dass die Wahrheit immer ein Jota außerhalb des Erreichbaren liegt. All das zeichnet Keith Waldrops unvergleichliche Gedichte aus, angereichert durch die Tatsache, dass er daraus absolut elementare Gedichte komponiert.

Es ist aber nicht nur das intellektuell konzise Nachdenken und die Art zu erzählen, die Räume öffnet, die mich von Anfang an für Waldrops Gedichte eingenommen haben, sondern durchaus dieser besondere Rhythmus, der einen Sog erzeugt.

Dass Waldrop nicht immer auf diese Art gedichtet hat, zeigt der erste Band der von Jan Kuhlbrodt und David Frühauf herausgegebenen Gedichte, die einen Querschnitt durch das Schaffen dieses in Deutschland leider viel zu wenig beachteten Dichters aus dem Zeitraum von 1968  bis 1997 im englischen Original und in der deutschen Übersetzung präsentieren.

Zu verdanken ist das nicht zuletzt den unermüdlichen Bemühungen von Jan Kuhlbrodt. Dass die von einem Übersetzerteam übertragenen Gedichte darüber hinaus in einer nicht nur ansprechenden, sondern auch sehr passenden Form vorliegen, ist wiederum Michael Wagners Verdienst, der  maßgeblich für die Gestaltung des Bandes beim gutleut Verlag verantwortlich ist.

Das von Jan Kuhlbrodt zusammengestellte Übersetzerteam leistet gute Arbeit. Obwohl vier unterschiedliche Dichter, nämlich Tim Holland, Swantje Lichtenstein, Peggy Neidel und Barbara Tax, die Übertragungen angefertigt haben, liest sich das Ganze (mit klitzekleinen Ausnahmen) wie aus einem Guss.

Im Nachwort betonen die Herausgeber, dass die vorliegende Auswahl aus unterschiedlichen Schaffensperioden Keith Waldrops die „motivischen Bewegungen seiner Dichtung, die Einflüsse aus seiner Übersetzertätigkeit sowie seiner philosophisch-theologischen Lektüren, die den Dichter immer wieder zu formalen Experimenten treiben und dazu, die Grenzen der Gattung zu überschreiten.“ nachvollziehbar machen will. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hätte ich mir einige editorische Notizen zur Auswahl und zu den Bänden selbst gewünscht. Informationen wie die, dass das Debüt „a windmill near calvary“, im selben Jahr erscheint, in dem Waldrop seine Lehrtätigkeit an der Brown University aufnimmt, während der zweite Band „the garden of effort“, 1975 bei burning deck, dem bereits 1961 gemeinsam mit seiner Frau Rosemarie Waldrop gegründeten Verlag erscheint. Das sind Kleinigkeiten, und vielleicht wird all das im angekündigten zweiten Band eingelöst.

Die Entwicklung und Beeinflussung wird naturgemäß dennoch deutlich, aber darüber hinaus kristallisiert sich ebenfalls heraus, was sich Waldrop über all die Jahre, über alle experimentellen Phasen hinweg bewahrt, nämlich diese „sensible irrationale Intelligenz“, von der in einem „gedicht, das mit einer feier endet“, die Rede ist. Hier findet sich auch die Behauptung, dass

„Alles (alles) verbindet sich
mit allem, nur nicht immer so,
wie wir es wollen.“

Keith Waldrop verknüpft alles miteinander. Und das Bindeglied seiner Verknüpfungen ist Zweifel. Dennoch entstehen nicht nur schöne und kluge, sondern zusätzlich positive Gedichte, solche die zum eigenen Denken ermuntern.

Die Gedichte aus „windfall losses“, dem 1977 erschienen, dritten Gedichtband Waldrops, bestehen teilweise nur aus Überschriften. Aber auch die anderen aus diesem Band übertragenen Stücke scheinen abgehackt, im Telegrammstil geschrieben, gehetzt oder unfertig. Das ist der Eindruck, den sie vermitteln.

Andererseits handelt es sich hierbei um Zeilen, denen jeweils Thesen vorangestellt sind. Aber schon dort, bei den Belegen der zweiten These, gerät Waldrops Sprache wieder in diesen „Waldrop Sound“ des erzählerischen Nachdenkens.

Erwähnenswert erscheint mir darüber hinaus ein Vers aus dem Briefgedicht „An Rosmarie in Bad Kissingen“, ebenfalls aus dem Jahr 1977, der eine erschreckend luzide Generationenanalyse beinhaltet:

„Die Kriege der Jungen, denke
ich, werden Religionskriege sein.“

Spätestens in „water marks“, dem 1987 erschienen Band, wird deutlich, dass jedem Satz das Bewusstsein zugrunde liegt, dass nichts deckungsgleich ist, die Beobachtung nicht mit der Wiedergabe der Beobachtung, die Gedanken und Gefühle nicht mit den Worten, die sie auszudrücken versuchen.

„[…] keine Beschreibung   
stellt ihn zufrieden. Wenn er
sagt, was passiert ist,
findet er es schon nicht mehr
angemessen.“

Sicher spielen hier Erfahrungen beim Übersetzen ebenso eine Rolle wie die Beschäftigung mit philosophischen Fragen. Möglicherweise werden die Gedichte allgemein immer philosophischer, allerdings ohne sich vom Leben zu entfernen, ohne das Konkrete und Sinnliche jemals aus dem Blick zu verlieren. Eine Dichtung, die nie aus dem Bewusstsein verliert, dass wir nur Wellen sind, die nichts vom Wasser wissen, wird mit diesem Band endlich in einem breiteren Rahmen dem deutschen Publikum zugänglich gemacht.  

Keith Waldrop · Jan Kuhlbrodt (Hg.) · David Frühauf (Hg.)
gravitationen 1 / ausgewählte gedichte (1968-1997)
englisch / deutsch
gutleut verlag
2017 · 156 Seiten · 23,00 Euro
ISBN:
978-3-936826-18-0

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