Im Gulag schönste Jahre.
Als „meine schönste Zeit” beschreibt Lewan Berdsenischwili, pensionierter Direktor der georgischen Nationalbibliothek, Philosoph, Altphilologie und liberaler Abgeordneter, in „Heiliges Dunkel” jene drei Jahre, die ihm die kommunistische Staatsgewalt vom Leben gestohlen hat. Er schildert diese Zeit auf heitere, vergnügliche Weise. Wie kann das sein?
Als 25-jähriger Doktorand der Geisteswissenschaften verbrachte Berdsenischwili die Jahre 1984 bis 1987 als politischer Gefangener im sowjetischen Dubrawlag Baraschewo in Mordwinien, einer dünn besiedelten Region in Russland. Anstatt einen Professorenposten anzustrengen und eine Familie zu gründen – die Gefährtin hatte der junge Mann schon gefunden – verrichtete er Zwangsarbeit in der grimmigen Kälte des unwirtlichsten Teils von Europa. Man hatte Berdsenischwili der Gründung einer kriminellen Vereinigung angeklagt und für schuldig befunden.
In Wahrheit unterhielt der kritische Leser und Denker philosophische Gesprächsrunden . Die dort aufgeworfenen Gedankengänge reichte er, niedergeschrieben, weiter. Sein Bruder, seine Frau und ein Gleichgesinnter halfen beim Tippen, Vervielfältigen und Verteilen. Diese Schriften erreichten 300 InteressentInnen.
Der Gesinnung nach stand Berdsenischwili dem „georgischen Sokrates” nahe: Merab Mamadaschwili1 (1930-1990), der in Moskau Philosophie lehrte. In Berufung auf Kant und Descartes stellte der über die Grenzen der Sowjetunion hinaus angesehene Mamadaschwili vor alle anderen Verpflichtungen den Individualismus. Bis zu seinem Tod kämpfte Mamadaschwili für die Verteidigung dieser Freiheit.
Berdsenischwilis humanistische Überlegungen beruhten auf Platons Wunsch, ein Philosoph möge den Staat lenken. 1978 gipfelten sie im Programm einer zu gründenden Republikanischen Partei. In der Breschnew-Ära, die kommunistische Herrschaft nach der Tauwetter-Periode neu erstarrt, kam eine derartige Idee Staatsverrat gleich. Bis 1991 sollte es dauern, dass eine liberale Partei ins georgische Parlament einzog. Gemäß der Natur des Menschen war derselben weniger Erfolg beschieden als den Fraktionen der jeweiligen populistischen Schreihälse.
Als die Tätigkeiten der Untergrundgruppe aufgedeckt wurden, verhaftete man 1983 erst seinen Bruder David, dann Lewan Berdsenischwili. Er wollte eben seine Dissertation über Aristophanes zum Binden bringen, da sprangen die Polizisten aus einem Wagen und nahmen den jungen Mann fest.
Im Arbeitslager war eine Strafmaßnahme die Isolation der Delinquenten von den Angehörigen. Nur einmal monatlich war das Senden bzw. Erhalten eines Briefes vom nächsten Verwandten oder Ehepartner erlaubt und nur einmal im Jahr durfte ein Häftling besucht werden. Für den Jungvermählten war das härter als die Haftbedingungen schwere Arbeit, bittere Kälte und schmale Kost. Die Beschneidungen ihrer geistigen Rechte trafen die politischen Gefangenen mehr als alles andere.
Warum er die Zeit, in der er täglich ein bestimmtes Pensum von Arbeitsfäustlingen nähen musste, damit seine karge Essensration nicht gekürzt wurde, eine gute nennt, obwohl er dabei 45 Kilo verlor, entspringt Berdsenischwilis Lebensphilosophie.
Aus seiner Zwangslage holte er das Beste und aus der dissidenten Gesellschaft, in die er im Lager geriet, den weitestmöglichen Radius für eine Diskussionsrunde.
Berdsenischwilis Erinnerungsbuch besteht – bis auf die Schilderung des Schreibanlasses und eine bescheidene Auskunft über den Werdegang des Autors im Nachwort – aus Portraits der 14 Männer, mit denen er interniert war.
Ein feinfühliges Porträt des Autors als Mensch, Politiker und Philosoph gibt Claudia Mäder in ihrer Buchrezension. (NZZ, 06.10.2018)
Neben bedeutenden Wissenschaftlern gibt es unter Berdsenischwilis Leidensgenossen einen anarchistischen Taxifahrer und traurigkomische Justizopfer aus Unverständnis. Man erfährt etwas über Herkunft und Charakter, Verhalten der Betroffenen im Lager und weiteres Schicksal der durchaus verschieden denkenden Dissidenten. Rezensentin Kerstin Holm liefert die beste Zusammenfassung des Panoptikums der Eigenbrötler und Dickköpfe, das in diesem Buch geboten wird. Sie bringt das „Heilige” im „Dunkel” auf den Punkt: Hinter Stacheldraht hätte Berdsenischwili eine Agora freier Gedanken errichtet, im frostklirrenden Gulag den geistigen „Olivenhain” einer platonischen Akademie geschaffen.
Wo Werte verteidigt werden, steigt das Verständnis für eigenes als auch das Denken der anderen: der kritische Intellekt. Durch die Wertschätzung, die die verschiedenen Unglücksraben, wenn nicht Jammergestalten, mit denen Berdsenischwili eingesperrt war, einander abgewannen, gelang es, das Unrecht von Staats wegen zu ignorieren.
Mit diesem seelischen Anspruch ist „Heiliges Dunkel. Die letzten Jahre des Gulag” ein untypischer Gulag-Roman, vergleicht man ihn mit den bekannten von den Russen Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamov oder dem weitsichtigen von Robert Neumann.
Was den Insassen solcher Denkkäfige angetan wurde, würdigt Bersenischwili nur weniger Worte: Dann hätten ja die gesiegt, die ihm seine Selbstbestimmung geraubt haben! Vielmehr nimmt er sich die Freiheit und schildert das Beste, das ihm im Gulag widerfahren ist: das von den eindrucksvollen Lagerbekanntschaften Gelernte und in welche interessanten Debatten er mit ihnen geriet.
Obwohl „Heiliges Dunkel” dem sowjetischen Genre eines Memoirenbuchs entspricht, das zu Zeiten des Samisdat unter der Hand von Schicksalen Verbannter und Verfemter berichtete, ist seine rückschauende Bilanz mehr als ein anklagendes Zeugnis aus den dunklen Tagen des Völkerkerkers.
Seit Fall des Eisernen Vorhangs neigen wir fortschrittswillig erzogenen Westeuropäer zur ignoranten Euphorie, wir seien nun in unseren Freiheiten gleich. Michail Ryklin nennt diesen Irrglauben: Nichtanerkennung der sowjetischen Erfahrung. Zwar befinden sich die Denker hie und dort nicht mehr im Kalten Krieg der Ideologien. Doch während die Freiheit den einen in die Wiege gelegt wurde, hat man auf der anderen Seite zu brechen versucht, wer selbstbestimmt dachte. Der Unterschied prägt – wie ein heute im Iran veröffentlichender Autor anders zu lesen ist als ein einer, der seine Gedanken ohne Zensur – Behörde wie Selbstzensur – äußern darf.
Wer sich an Menschen halten möchte, die das versuchte In-Grund-und-Boden-Stampfen ihres Gewissens überlebt haben, findet bei Berdsenischwili ein Vorbild. Der mittlerweile pensionierte Professor und Parlamentarier leuchtet für jene, die in eine Demokratie geboren wurden und noch viele Jahre vor sich haben. Denn dem „Dunkel”, das man über seinen Weg verhängte, gewann Berdsenischwili ein von Liebe und Sinnsuche belichtetes Leben ab.
- 1. s. Würdigung im Aufsatz Michail Ryklins: https://www.zeit.de/2008/36/Georgien-fr-her
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