"das Fleischherz dem Maß enthoben"
Sehr Punk und sehr urgewaltig ist "Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen" von Lisa Jeschke, ein 2019 bei hochroth München erschienenes Büchlein. Ursprünglich war "The Anthology of Poems by Drunk Women" eine englischsprachige Publikation der auch in London sozialisierten Autorin, umfassend ungefähr die ersten zwei Drittel des Bandes in seiner jetzigen, von Jeschke selbst ins Deutsche übertragenen Gestalt.
Reicht es zur Veranschaulichung des Sachverhalts, zu sagen, dass die Stimmen der "betrunkenen Frauen" bei Jeschke ungefähr so klingen, als würde uns Mark E. Smith Donna Haraways Cyborg Manifesto weniger erklären und mehr performen? Vermutlich nicht …
Die Texte sind nicht um Geschlossenheit bekümmert, um Wohlverständlichkeit ebenso wenig; doch gerade darin bieten sie ihren Kosmos als ein geschlossenes und klar nachvollziehbares Ganzes dar: bilden in dieser Hinsicht die im Titel genannten "betrunkenen Frauen" hervorragend ab. Immer wieder mal bricht ein brillanter, oder (besoffen-)begeisterter, oder auch schon mal selbstbewusst pathosgetränkter Textfaden ab oder verläuft sich in einem Gestammel, welches sich, in Gegenrichtung, auch oft genug als Medium so überraschender wie zwingender Denkbewegungen vernutzen lässt. Oder halt ebenso oft auch nicht – darin, in der Lizenz zur Nutzlosigkeit des rebellisch-schmutzigen kleinen Details, liegt die Selbstgewissheit von Punk als Grundgestus, und wäre die nicht gegeben, das Ganze könnte nie richtig zu sich kommen.
Man muss allerdings, als habitueller Konsument sanfterer, bildungsbürgerlicherer Lyrik, eine Mindestbereitschaft mobilisieren, sich auf diesen Gestus auch einzulassen – denn sie sind mitunter böse, stellen sich gern auch primitiv, nehmen keine Rücksicht auf Verluste oder Haltungsnoten. Das dürfen sie auch nicht, denn worum es geht – wovon Jeschkes "betrunkene Frauen" dichten – das ist die Frau, die frau nicht ist, sondern zu der frau, mit de Beauvoir gesprochen, gemacht wird; das ist der Umgang mit (dem Verlust von) Würde (aus Geld- und Geschlechts-, überhaupt lauter sehr diesseitigen Gründen).
Hätte Jeschke zur Stimmung (sehr betrunken), zum Ur-Befund (zur Frau wird frau gemacht), zur strategisch-naiven Neugier und zum spürbaren inhaltlichen Ausdruckswillen nicht auch noch einiges an Ahnung zu bieten – sprachliche Ahnung, akademisch-theoretische Ahnung – die Texte kämen inhaltlich nicht über ca. "Community-Kabarettabend im besetzten Haus" hinaus. Da sie das doch tun, ist die "Anthologie" unbedingt zu empfehlen, insbesondere solchen Leser*innen, die mit der Möglichkeit bis jetzt unvertraut waren, es könne derzeit gänzlich verwirklichte, auf der Höhe ihrer Möglichkeiten operierende Sprache geben, die sich zugleich nicht – nicht hauptsächlich – aus den institutionellen Gedächtnissen der Unis und Redaktionen herschreibt.
Der vorletzte Text des Buches (einer von denen, die es nicht zuerst in der englischsprachigen Version gab) macht – aber das ist vielleicht nur die gelungene Anordnung des Materials – den Eindruck, in ihm würde so etwas wie eine Befreiung des betrunkenen Subjekts geschehen – Ernüchterung, mitten in der Nacht, (wir kennen das:) plötzlich hellwach den Gedankenstrom, der einen ins Jetzt gespült hat, neu sortieren, überrascht sein, wie ruhig man sich selbst zur Kenntnis nimmt. Das klingt, in Auszügen, dann so:
Immer noch: Wann schafft Deutschland sich endlich
ab??????!!!!!!!!!!!!!!/()=%&/%§&%(/)(/)&/%Warum so Ewigkeit im Diesseits? Warum so keine Theorie
Des Übergangs? Warum keine Theorie? Wo der Horizont?Das Königreich um uns - immer noch Organ, ein Biomensch.
Und wir?Und wir?
Wir sind die Robotermädchen.Roboter schaffen sich gerne ab
Wie sie sind wie sie waren.Robotern macht das nichts aus.
Roboter sind NEUGIERIG.Roboter FREUEN SICH.
ROBOTER HABEN GEFÜHLE.Ich. zum Beispiel, nur so ein einfaches Robotermädchen
Unter vielen, würde mich soWie ich bin wie ich war, ganz empirisch,
super-gerne abschaffen,(…)
Würde sich das Königreich abschaffen
So wie es ist wie es war,Könnte es auch endliche Roboter werden,
Und auch in diesem Fall, wie bei meiner Roboterfreundin,Würde jedes Staubkorn der Geschichte sichtbar bleiben,
Weil, die Abschaffung ist das Gegenteil der Vernichtung,So würden auch die verstörendsten Details von damals (heute)
Sichtbar bleiben,Dass Roboter zwar hand-verschimmeln durften,
Sich aber nicht einfach so umbauen konnten, ohne Erlaubnis,Dass (…)
Diese Details aus der Wildnis würden wir immer
Wieder erforschen, nicht nostalgisch,sondern um sie zu zerlegen,
Während wir, mit kitschiger Musik im Hintergrund(…)
Gen Horizont laufen,
Die Roboterpferde an unserer Seite.
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