Ausbuchstabierung des Schmerzes.
Im Falle des Werkes Paul Celans gibt es kaum editorische Grenzen, allerdings kann die Sorgfalt, mit der stetig ein monumentaler – wenn nicht zu sagen monolithischer – Band nach dem anderen erscheint, nicht darüber hinwegtäuschen, welche enormen Leseschwierigkeiten, schwindelerregenden Abgründe des Umgangs mit Sprache und Kunst so elegant zwischen die Buchdeckel gebunden wird. Celan bleibt – da mögen noch mehr Handbücher und Dissertationen folgen – kein Autor, der sich wie jeder andere lesen, verwalten oder verkaufen lässt. Aus seinem Werk folgt zunächst ein Aufruf an den Leser, ein Aufruf, der jede Art des Verstehens auf den Kopf zu stellen droht. Deswegen führen Celans Texte durch die Enge. Sie zeigen, was es bedeutet, sich mit einem Thema, mit sich selbst und mit anderen zu befassen, in ein Gespräch zu treten, das oft im Sprachlosen endet, selbst wenn man sich Zeit für alle anwesenden Worte nimmt. Celan lesen lernen heißt, lesen zu lernen, was sich kaum lesen lässt, was oft nur mitgesprochen oder aber ganz verschwiegen wird – zwischen den (W)orten, in den Intervallen, Zwischenräumen, in den Sprüngen (z.B. von einem Vers zum anderen), in der Bewegung (des Seins) zum Anderen hin.
Was die Lektüre unendlich erschwert – sie beinahe schmerzhaft macht – ist der Wert den Celan der Lektüre selbst beigemessen hat. Seine Leselisten und gut gesammelten Lektürespuren lassen erahnen, dass ihm das Lesen kaum weniger wertvoll war als das Atmen.
„Irgendwen, irgendwas, Paul Celan liest überall, weil da Wort auf das Gedächtnis verweist und dieses Wort ein imaginärer Raum ist, in dem sich die Lesbarkeit der Welt entscheidet“,
nicht ohne Grund hat Jean Daive seine Erinnerungen an Celan mit diesen Worten begonnen. (Jean Daive, Unter der Kuppel. Erinnerungen an Paul Celan, dt. von Anke Baumgartner, Basel / Weil am Rhein 2009, S. 5)
Ich möchte nicht behaupten, dass sich dieser spürbare Umgang mit dem Buch, mit Texten im allgemeinen und dem Gedicht im Besonderen vollends verloren hat, doch wer sich auf ein Gespräch mit den Texten Celans einlässt, der benötigt auch eine Wahrnehmung vom Verpassten, Verlorenen, Vergangenen. Es geht dabei um die Sterblichkeit, das innerhalb des Lebens als nicht mehr lebendig Erkannte, Präsente, um Trümmer also und Wunden, aber auch darum, wie uns Vergangenes, Verlorenes, Verpasstes (wieder)begegnen, was sie mit uns machen, was sie in uns auslösen, wie sie uns auflösen...
Werner Hamacher hat die Philologie in seiner 52. These zur Philologie mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert, die eine Sprache des Schmerzes bedeutet, die (im Gedicht „Tübingen, Jänner“) zu einem Lallen wird:
„Indem sie [die Philologie] ihn als den Schmerz ihrer eigenen Sprache erkennt? Indem sie den Schmerz des Anderen anders wiederholt? Den Schmerz, das Andere ändert? Sich von ihm ändern läßt? Ihn löst? Aber das Gedicht stellt keine Frage. Die Philologie gibt keine Antwort.“ (95. Thesen zur Philologie, roughbook 008, Frankfurt a.M./Holderbank 2010, S. 55)
Folgt aus diesem Fehlen von Frage und Antwort auch Rat- und Redlosigkeit? Gewiss! Aber der Schmerz lässt nicht einfach nur verstummen, er nimmt der Philologie auch diese Antwortmöglichkeit, ohne ihr aber die ausbuchstabierende Lektüre zu versagen. Was eine Ausbuchstabierung des Schmerzes bedeutet, kann man der Studie Michael G. Levines entnehmen, die den Titel Atomzertrümmerung trägt und im Untertitel „Zu einem Gedicht von Paul Celan“ heißt.
Sogleich fragt man sich, was zertrümmert werden soll oder wird? Geht es darum zu zeigen, wie das Gedicht Atome zertrümmert, wie diese innerhalb des Gedichtes zertrümmert werden, oder ist gar die Interpretation eine Zertrümmerung? Eine grobe Ahnung erhält man dann, wenn man erfährt, dass es sich bei Celans Gedicht um „Eine Silbe Schmerz“ handelt, denn dieses endet mit den berühmten Versen „buch-, buch-, buch- / stabierte, stabierte.“ Der Buchstabe (bzw. das Buchstabieren) wird aufgebrochen, obwohl er selbst das Einzelne, das Atom eines Wortes darstellt. Man fühlt sich – und dafür hat Thomas Schestags Buk gesorgt – beim Aufbrechen des Buchstabens bei Celan sofort an die Bukowina, das Buchen- und Buchstabenland erinnert.
„Bukowina bricht ein drittes Mal auf. In Bukarest, Arrest im Innern eines andern Buk, begegnet Antschel buchstäblicher der Buche. Das rumänische, Buche geschriebene, Bucke gesprochene Wort, slawischen Ursprungs, bedeutet die Letter, den Buchstaben.“ (Buk. Paul Celan, München 1994, S. 19)
Wer die „Erfahrung des zerschellenden Worts, der zerschellenden Landschaft“ wie Schestag mit dem Sprachspiel konfrontiert, das aus Antschel Ancel und daraus Celan werden ließ, erkennt „die bis ins Erz der Sprache gedrungne Erfahrung ihrer Zerschlagbarkeit“. (Ebd. S. 21 f.) Celans Gedichte verdichten Erfahrungen und bleiben ihnen eingedenk, indem sie zerschlagene Daten und Sprachen überlagern, ohne dabei die Zerschlagbarkeit des Buchstabens zu vergessen. Das Gedicht „Die Silbe Schmerz“ drückt für Schestag die Aufsplitterung des verortenden Wortes Schmerz aus, das „dem Silber nah, ins Erz ausgeht, das Herz verzeichnet: zwischen Trauer und Melancholie aussetzt. Das Gedicht wahrt aber auch, gegen Ende, in den zwei abschließenden Zeilen, die Erinnerung an den Ort – Buk –, der das Wort zur Silbe auftrennt – das Gedicht freisetzt“. (Ebd. S. 25)
Genau um diese Freisetzung geht es auch Levine, allerdings geht es ihm vor allem um diejenige, die aus dem Gedicht für die Philologie erwächst. Das Gedicht ist für ihn poetische Kritik, wobei er das Poetische bei Celan als „nicht abgeschlossen, nicht mit sich selbst identisch“, und poetische Kritik demnach als Fortsetzung des Gedichtes in und durch Kritik, aber auch als Fortführung dessen, „was rätselhaft beim dichterischen Zeugnis und seinem Idiom bleibt“ fasst. (Atomzertrümmerung S. 15 f.) Sehr richtig bemerkt er dazu, dass gerade die Arbeit mit Primär- und Sekundärliteraturen dadurch erschwert wird, „dass das Celan'sche Gedicht schon eine Art poetische Kritik betreibt, indem es selbst andere Texte liest, sie in sich zusammenliest, sich aber auch in diese auslegt.“ (Atomzertrümmerung S. 16) Die Auslegung des Gedichtes birgt also die Schwierigkeit, in eine Überdeckung oder Überlagerung zu münden, ohne die eigentlich innewohnende kritische Arbeit sichtbar zu machen, genauso ist es jedoch möglich, dass auch die Auslegung selbst vom Gedicht überzeichnet und verdrängt wird, also poetische Kritiken in Widerstreit geraten und entweder ihren Gegenstand oder sich selbst aus den Augen verlieren.
Levines Ausführungen zum Gedicht gehen zum Glück an den bloß gelehrten Fleiß- und Fließbandarbeiten vorbei. Was ihn vorantreibt, ist das „Inter der Intertextualität“. (Atomzertrümmerung S. 16) Mit Szondi kann er Dichtung als poetische Realität begreifen, woraus folgt, dass „der Leser selbst poetisch vorangehen“ muss. (Atomzertrümmerung S. 15) Er muss das Gedicht offen halten, den besonderen Schmerz umkreisen, den das Gedicht artikuliert und sich mit dieser spezifischen Sprache der Dichtung auseinandersetzen.
Aus diesen Überlegungen heraus, erscheinen die von mir zitierten letzten Verse aus „Die Silbe Schmerz“ Levine als „Stottern, in dem sich sogar die Zertrümmerung des allerkleinsten sprachlichen Atoms, des Buchstabens, ankündigt.“ (Atomzertrümmerung S. 18) [Die Nähe zur 52. These von Hamacher – obwohl sie von Levine nicht zitiert wird – ist nur wenig erstaunlich, schließlich ist die gesamte Studie dem Andenken Hamachers gewidmet.]
Das Sterben des Buchstabens ist jedoch nur der Ausdruck eines „sprachspezifischen“ Schmerzes, der „nie zur Sprache kommt“ und der vom Gedicht mitgesprochen wird. (Atomzertrümmerung S. 18 f.) Levine entnimmt die „Atomzertrümmerung“ Walter Benjamins Passagenwerk und verbindet sie mit Derridas anderer Geschichte der Schrift. Es geht ihm dabei um die „abschweifende Deklination, die alles ermöglicht.“ (Atomzertrümmerung S. 24)
Beeindruckend ist wie Levine „Die Silbe Schmerz“ mit Rilkes X. Elegie verknüpft [Barbara Wiedemanns jüngster Kommentar verzichtet leider gänzlich auf den Bezug zu Rilke, verweist aber auf Texte von Schestow, Sachs, Behn, Baudelaire und Apollinaire], die als Elegie über die Elegie und als Elegie für die Elegie eine „poetische Selbstreflexion“ (Atomzertrümmerung S. 25) darstellt, die bei Celan Los/Losung/Freisetzung/Geschick und Schickung wird. In Rilkes Elegie wird darüber geklagt, dass wir „Vergeuder der Schmerzen“ sind; es ist die Rede von einer „traurige[n] Dauer“ und einer marginalen Hoffnung auf ein Ende. (Vgl. die Verse 10-12) Liest man – wie Levine – darin den Wunsch, „das >-los< des Todlosen allmählich los zu werden“, dann wird der Tod erst als solcher (als Todlos) sichtbar. (Atomzertrümmerung S. 27)
Die Silbe Schmerz“ ist allerdings keine bloße „Umschrift“ der X. Elegie, es geht – und das setzt Verständnis für poetische Selbstreflexion voraus – bei Celan nicht um eine Inversion des Schmerzmotives, um „mütterliche Erlösung“, die sich im einzelnen Buchstaben ausdrückt, „sondern um eine Zersetzung des Buchstabens“. (Atomzertrümmerung S. 34)
Unter dem schönen Begriff der „Ausbuchstabierung“ kommt ein spracheigener Schmerz zum Ausdruck, der sich eigentlich kaum ausdrücken lässt, da er sich nirgendwo anders als in diesem Aus des Buchstabens befindet. Levine fragt sich, was zwischen den Sprachen geschieht, welcher Schmerz beim Übertragen verloren geht oder verschwindet, und welcher neue Schmerz just darüber entsteht. Gerade in Celans Übertragung „Die Herbstzeitlosen“ von Apollinaires „Les Colchiques“ erkennt er eine „genealogische Torsion“, eine ins Schwanken gebrachte Sprache, die ihr déplacement immer weiter tragen muss bis alle „Modi der Präsenz“ sich in einem Zeitlosen verlieren. (Atomzertrümmerung S. 53) Im Gedicht Apollinaires zeigt ich dies in Form einer Irrfahrt, einer Blumenodyssee, die die giftige Mutterblume mit den Augen der Geliebten engführt und die bei Celan zu „eine[r] buchstäbliche[n] Fahrt in die Irre“ wird. (Atomzertrümmerung S. 57) Das Gift der Blume – um es auch übertragen zu können – kontaminiert schließlich auch den anderen Text und stellt dadurch Leerstellen, Intertextuelles her. Dadurch wird für Levine der Intertext zum Ort einer „doppelten Deplatzierung“, zum „ortlose[n] Ort, wo verschiedene, schon nicht mehr mit sich selbst identische Texte sich berühren, sich buchstäblich kon-taminieren (com+tangere).“ (Atomzertrümmerung S. 61) Das Gedicht ist ein Randgänger, eine Marginalie, ein an den Rand gedrängter und sich dort behauptender, „schwer zu verortende[r] Ort, wo die Zeit der Übersetzung verlängert wird, wo Zitate und immer weiter anschwellende Texte miteinander schwimmen.“ (Atomzertrümmerung S. 61 f.)
Das gemeinsame Schwimmen und Verschwimmen der Texte, die darin – um auf Hegel anzuspielen – flüssig gewordenen Begriffe, das sich-Verlieren, das Ausmerzen oder Ausschmerzen des Schmerzes, das Ausbuchstabieren mündet in ein sich Öffnen und Offenwerden, Freisetzen und Loslösen des „-losen“. (Vgl. Atomzertrümmerung S. 65 f.) Wenn das Feste, Festgewordene, Steinerne aufgebrochen, vom Boden gelöst, aufgewirbelt -und geworfen wird, wird es auch dem coup des Zufalls, dem Mallarmé'schen Würfelwurf unterworfen, einer Bewegung, die „im Gedicht [weniger] erzählt als schweigend von ihm inszeniert“ wird. (Atomzertrümmerung S. 68) Levine macht hier – ganz im Sinne Hamachers – deutlich, dass das Versprechen, das ein performativer Sprechakt suggeriert, innerhalb des Gedichtes zum Versprecher wird.
Die Konfrontation mit Rilke findet ihren Höhepunkt in ihrer schmerzlichen Ausbuchstabierung. Die Klage aber artikuliert dabei nicht bloß ein Lamento und eine Reflexion über die Klage selbst, sie treibt den Schmerz bis zum und in das Ende, sie führt in das Nichts und in die Vernichtung.
„An dieser Vernichtung geht die Elegie selbst zu Grunde, wird als Gattung vernichtet. Wie Treibgut schwimmen die Wrackteile dieser Form auf der weißen Oberfläche des Gedichts.“ (Atomzertrümmerung S. 76)
Mit der weißen Oberfläche markiert auch die Interpretation des Gedichtes ihre carte blanche. Das Zerbrechen darf jedoch keinesfalls als Scheitern missverstanden werden. Mit Heidegger weist Levine es als eine bestimmte Weise des Erfolges aus, bei dem etwas anderes durchbrechen und durchdringen kann, z.B. ein „verstimmtes“ Nachklingen einer Stimme, eine „Erläuterung“, die Nachklang nur ermöglicht, „indem sie – selbst zerbrechend – etwas anderes durch ihre Brüche hören [lässt]“. (Atomzertrümmerung S. 79) Die Wehklage über diese schwere Geburt, die Levine selbst als „atomzersplitternde[ ] Entbindung unterbundener zwischensprachlicher Energien“ bezeichnet, kann im Wesentlichen nicht mehr sprachlicher Natur sein. (Atomzertrümmerung S. 79 f.) Sie wird ganz im Sinne des beständigen Stockens und Lallens der Ausbuchstabierung in das Geheimnis einer „Begegnung und ein[es] fast stumme[n] Verstehen[s]“ getrieben. Mit diesem Zitat aus einem Brief an Gisèle, auf den Levine im abschließenden, nachträglichen Teil seines Textes zu sprechen kommt, wird eine sehr persönliche Form des Umgangs und der Interpretation beschworen, die – sofern sie nicht über den Schmerz hinwegtröstet – doch einen Moment des Augen-trostes ermöglicht, einer stillschweigenden Gerechtigkeit der Sprache. Dieses Gespräch – und Celans Texte sind immer Gespräche – ist keines, in dem etwas verschwiegen wird, sondern eines, das selbst schweigt. Daher hat Hamacher im Text „Schweigeasyl“ (aus dem jüngst nachgelassenen Band Sprachgerechtigkeit) auch betont, dass nicht über das Gespräch gesprochen werden kann, ohne es reflexiv zu vergegenständlichen:
„Über das Gespräch lässt sich nur in der Fortsetzung und der Überlieferung des Gesprächs sprechen – das heißt: Das Gespräch kann über sich selbst nur schweigen.“ (Sprachgerechtigkeit, Frankfurt 2018, S. 331)
Levines Atommzertrümmerung ist also niemals die Zertrümmerung eines Gedichtes, das den Schmerz thematisiert, aufwirft, herumwirbelt und überträgt, es ist viel eher die erklärende – aber nicht verklärende – Zertrümmerung einer Ausbuchstabierung des Schmerzes qua Gespräch und noch eher ein Gespräch über ein Gedicht, das – oft im Stillen, oft in den Zwischenräumen – Gespräche mit anderen Gesprächen spricht, die sich dem Gespräch zwar nicht entziehen und mit all ihren Reden und ihrem Schweigen, ihren Abwegen, Verweigerungen und Schmerzen dem Gespräch widerstehen, aber nur innerhalb des Gesprächs leben und sterben können. The Rest is silence!
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