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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Von der Unmöglichkeit gerecht zu sein

Hamburg

Geschichten, Ereignisse, Begegnungen, die uns verstören, uns eine Sicherheit genommen haben, irgendwann, von der wir später nicht einmal mehr sagen können, ob sie je eine gewesen ist, erzählen wir sprunghaft oder in falscher Reihenfolge …

Dieser Satz aus der Mitte des Romans Schutzzone von Nora Bossong bezieht sich zwar auf die unglückliche Liebesgeschichte der Ich-Erzählerin Mira Weidner, könnte aber ebenso das Erzählkonzept der Autorin beschreiben. Denn vier der fünf Kapitel tragen die Überschriften Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung, Themen, die nicht chronologisch erzählt werden können und deren Ansprüche in der Wirklichkeit schwer umzusetzen sind. Naturgemäß lässt Nora Bossong ihre Protagonistin an ihnen scheitern.

Um es vorwegzunehmen: Obwohl der Roman mit seinen vielen Zeitsprüngen, Orten, Begebenheiten (mehrmals habe ich über sie im Internet zusätzlich recherchiert) sich nicht nebenbei lesen lässt, konnte ich ihn nicht zur Seite legen. Da ist zum einen die packende Arbeit der Erzählerin im Rahmen der Vereinten Nationen, zum anderen die Geschichte ihrer Liebe zu Milan, vor allem aber ist es Nora Bossongs Erzählstil, der fasziniert, weil er diese komplexe und komplizierte Handlung sowie das Handeln der Personen sehr nachvollziehbar beschreibt und gleichzeitig sprachlich immer wieder hinterfragt.

Zu Beginn der Handlung 2017 trifft Mira in dem luxuriösen Hotel Beau Rivage in Genf nach vielen Jahren den acht Jahre älteren, verheirateten Milan wieder, bei dessen Familie sie als achtjähriges Kind gewohnt hatte. Diese unstete Liebesgeschichte unterstreicht Miras Melancholie, die ihre Arbeit mit sich bringt.

Als sie sich begegnen, besteht Miras Arbeit darin, zwischen Türken und Griechen in der Zypernfrage zu vermitteln. Am Ende verkündet António Guterres das Scheitern der Zyperngespräche und Mira denkt: mein Leben klappte einfach vor mir zusammen.

Schon zuvor hat Mira oft an ihrer Arbeit gezweifelt. Sei es in einem winzigen Büro in New York, wenn sie für die UNO Kampfhandlungen in Khartun in Tortendiagramme und Statistiken zerlegt, vor allem aber während der Jahre, die sie in Burundi arbeitet. In diesem kleine Staat Afrikas gab es ähnlich wie in Ruanda Gewalt und Auseinandersetzungen, gab es einen Bürgerkrieg, auch bedingt durch ethnische Konflikte zwischen der Hutu -Mehrheit und der Tutsi-Minderheit. Und obwohl 1993 fast 100.000 Menschen getötet worden waren, durfte im Gegensatz zu Ruanda nicht von einem Völkermord gesprochen werden.

In der Nacht waren fünf Leichen ans Ufer des Ruzizi gespült worden. … Die Bilder lagen auf meinem Schreibtisch, ich schob sie an den Rand, fuhr mit dem Finger ihre Umrisse nach und suchte nach der Farbe auf den Fotos, die ich beschreiben konnte, nach einem Glitzern im Wasser oder einem Schilfrohr …, ich strich mir den Pony aus der kalten Stirn und versuchte die Bilder zu übersetzen in einen Bericht, in dem der Zwischenfall besorgniserregend, aber in keinem Fall als grundlegendes Scheitern unserer Arbeit erscheinen durfte, unsere Bemühungen, die Opposition zur Rückkehr ins Land zu bewegen. Wir scheiterten nicht. Nicht in Berichten. Niemals ganz.

Miras Aufgabe in diesem Konfliktfeld ist, eine geplante Wahrheitskommission vorzubereiten, indem sie in Lager geht, über die Dörfer fährt, um mit betroffenen Menschen zu sprechen. Die oben angeführte Stelle zeigt, dass in dem Buch häufig zwischen all den das Elend beschreibenden Zeilen auch die Lyrikerin Nora Bossong zu spüren ist. Gleichzeitig enthält diese Stelle das wesentliche Thema des Romans: Was ist Wahrheit und wie gehen wir mit ihr um? Das ist es auch, was die junge UN-Mitarbeiterin Mira umtreibt, wenn sie in Lager geht.

Ich kann nicht sagen, wie gerecht ich damals gewesen bin, ich musste schnell entscheiden, mit wem ich sprach, wem ich vertraute oder vorgab zu vertrauen, im Lager musste ich noch schneller sein als in den Dörfern. Sie waren voller, vollgestopft mit Menschen.

In diesem Lager trifft sie auf einen Kindersoldaten, der unter dem Rebellengeneral Aimé gedient hat. Auch mit diesem trifft sich Mira, erliegt seinem Charme und wird sogar verdächtigt, ihre Rolle vergessen zu haben und ihn zu decken. Aimé hält überhaupt nichts von Miras Arbeit, kanzelt die Wahrheitskommission als hübsche Rommee Runde, als Puppenstück ab, und prophezeit, Mira werde das Land verlassen, ohne etwas erreicht zu haben. Aber auch andere Menschen wird sie enttäuschen. Menschen, die ihr vertrauen und danach fragen, wann es endlich – wie in Ruanda – ein Tribunal geben würde. War es in Burundi nicht auch ein Genozid? In ihren Berichten darf diese Frage nicht vorkommen. Sie war nicht hier, um eine Wahrheit festzustellen, denn die gibt es nicht.

… die Kommission wird nicht den Lauf der Geschichte festlegen, wir werden verschiedene Geschichten hören, und sie werden sich zum Teil widersprechen, sagte ich, es geht darum, dass Sie erzählen …

Gerade weil dies alles nicht chronologisch erzählt, sondern mit Miras übrigem Leben, das eigentlich nur aus Niederlagen besteht, verflochten ist, wird deutlich, wie sehr sie darunter leidet. Nein, sie ist keine Zynikerin, wie es in einer Besprechung hieß, sie weiß um den mangelnden Erfolg, manche Sinnlosigkeit ihrer Arbeit und es ist ihr nicht gleichgültig. Ohne festen Bezugspunkt, ohne Familie (von ihren Eltern weiß man nur, dass sie geschieden sind) irrt sie in diesem riesigen Kosmos mit diesen riesigen Aufgaben und Fragen nach Gerechtigkeit und Verantwortung herum. Obwohl sie sich am Ende fragt, ob sie nicht ein falsches Leben führe, hat sie nicht die Kraft, bei der UN zu kündigen.

Es ist bewundernswert, wie Nora Bossong die vielen Aspekte kunstvoll verknüpft. So übt der jugendliche Milan Schuberts Klaviersonate 21 und die damals achtjährige Mila erinnert sich nach Jahren an die Szene, weil im Radio mit diesem Musikstück in Burundi 1966 der Putsch verkündet wurde. Es sind viele Kleinigkeiten, die das Bild abrunden. Wenn beispielsweise Miras Chef in der Zypernfrage dann doch, aus Furcht sich unbeliebt zu machen, vom ehemals kritischen Redemanuskript abweicht.

Am selben Tag, an dem ich diese Besprechung schreibe, lese ich auf Spiegel online ein Interview, in dem der Sonderbeauftragte des UNHCR Vincent Cochetel den Ablauf seiner Besuche in den Lagern in Libyen beschreibt. Nur mit ausgewählten Flüchtlingen dürfe er reden, immer stünden Wächter dabei, so dass die Menschen nicht die Wahrheit sagen könnten. Die Bedingungen seiner Arbeit seien inakzeptabel. Aber habe er eine Wahl? Und dann kommt ein Satz, den auch Mira sagen könnte: Aber angesichts ihres Leids können wir die Menschen nicht im Stich lassen.

Nora Bossong
Schutzzone
Suhrkamp
2019 · 332 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42882-5

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