Das Vorhandene wird zeichenhaft
10) Zeichnungen aus Peter Handkes Novum Testamentum Graece:„I. reife Kirsche 4/6/2018“; „Marienkäfer auf den Fingerkuppen 15/7/2018“ (Vorsatzpapier) / © 2019 by Peter Handke / Sophie Semin Handke
Die Notizbücher, die Peter Handke seit 1971 kontinuierlich führt und aus denen er seit 1977 mehrere Journal-Bände kompiliert hat, sind nicht nur wesentlicher Bestandteil seines literarischen Werkes, sie bilden im Grunde dessen Kern. Über ihre werkimmanente Bedeutung hinaus sind sie auch für nicht „handke-kundige“ Leser*innen eine ergiebige Sammlung poetischer Weltanschauung und -entdeckung. Dass der Autor sich mit seinen Journalen über die Jahrzehnte immer mehr in Richtung Goethes Maximen und Reflexionen geschrieben hat, ist dabei kein Zufall. Auch wenn diese Engführung auf den ersten Blick etwas anmaßend oder übertrieben erscheint, so ist die Faszination an den Aufzeichnungen eines lebenden Schriftstellers, wie im Fall Handke, doch relativ beispiellos. Das Marbacher Literaturarchiv erwarb im Jahr 2017 den kompletten Bestand der Notizbücher als Vorlass und feierte diesen Ankauf mit einer öffentlichen Veranstaltung im Beisein des Schriftstellers sowie mit einer Buchpublikation. Bereits 2015 war in der Insel-Bücherei eines von Handkes Notizbüchern aus den 1970er Jahren komplett als Faksimile erschienen. Im bisher letzten Journal Vor der Baumschattenwand nachts ging man dazu über, auch ausgewählte Zeichnungen aus den Notizbüchern mit in die Druckfassungen zu übernehmen. Zeichnungen, die von Juni bis September 2017 sogar in der Galerie Klaus Gerrit Friese in Berlin als eigenständige Kunstwerke ausgestellt wurden und jetzt in einem Katalog präsentiert werden.
Dabei stellt sich natürlich zuerst die Frage danach, ob Zeichnungen, die ein Schriftsteller im Verlauf des Schreibens in sein Notizbuch (pardon) „kritzelt“ einen autonomen Bildwert besitzen. Recht folgerichtig besteht Handke darauf, das Wort „Zeichnungen“ in Anführungsstriche zu setzen, da er kein ausgebildeter Zeichner sei. Eine Bitte, der der Verlag Schirmer/Mosel zumindest im Layout nicht nachkommt. Im Gegenteil. Handkes Zeichnungen, die selten mehr als sechs mal zehn Zentimeter messen und ihrem Ursprung nach gleichberechtigt neben und nicht selten von Text umflossen in seinen Aufzeichnungen zu finden sind, werden aus ihrem Kontext gelöst, auf Trägerpapiere im Format DIN A4 montiert und somit erhöht. Dass dadurch der „natürliche Rahmen“ der Notizbuchseite verloren geht, ist allerdings der einzige Kritikpunkt, den man an der Sammlung feststellen kann.
Noch bevor man zum einleitenden Essay des italienischen Philosophen Giorgio Agamben vordringt, beginnt auf dem Vorsatzpapier des Einbandes die Reise in Peter Handkes poetisches Denken und Arbeiten. Ein Ausschnitt aus seinem Exemplar des Novum Testamentum Graece zeigt, dass Handkes Notieren und Zeichnen über sein Notizbuch hinaus auch auf andere Bücher überzugehen scheint. Neben zahlreichen Anmerkungen und Übersetzungen taucht am unteren Bildrand, gerahmt vom Altgriechischen, nicht nur die linke Hand des Autors, sondern auch die erste reife Kirsche des Jahres 2018 auf. Weitere Seiten des Neuen Testaments, diesmal in besagten Essay eingebunden, wurden vom Schriftsteller mit lauter Walnüssen verziert. Agamben schreibt hierzu, wie überhaupt zu Handkes Zeichnungen:
„Handke interessiert wie Klee die Gestaltung, nicht die Gestalt, das Bild, das seine Entstehung in sich trägt und nicht zu entstehen aufhört. Wie eine Möglichkeit, die nicht der Handlung vorausgeht, sondern sie diskret begleitet. Wie Empfindungen, die an den Fingerkuppen, die sie gespürt haben, hängen bleiben, Eindrücke, die sich nicht von dem Blick lösen wollen, der sie wahrgenommen hat. Wer diese Bilder zeichnet, der zeichnet, gewissermaßen auch den Sinnesapparat mit, in dem sie erschienen sind, die Sensibilität, die sie durchbohrt haben.“
Besser noch als auf die Bibelverzierungen passt Agambens Analyse auf eine Kugelschreiberzeichnung, die Handke in der Picardie angefertigt hat. Sie zeigt ein Baum“glas“fenster, also eine feine Verästelung und Verzweigung, die durch die sensible Wahrnehmung des Sehenden ein etwas sakrales Muster darstellt. Ein Modus der Anschauung, der sich im Übrigen nicht nur mit Handkes Bibellektüre, sondern auch mit der Kenntnis der Metamorphosen des Ovid verbinden lässt. Nur zwei Seiten weiter wird schließlich anschaulich, was Handke meint, wenn er in Corinna Belz' Dokumentarfilm Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte sagt, dass Fiktion, dass Imagination die Verwandlung des Vorhandenen zu etwas Zeichenhaftem durch „sanfte Erwärmung“ ist. Und so werden die Grabsteine auf einem verkrauteten Friedhof in Concord, Massachusetts im Juli 2011 durch den Blick des Zeichners und den des Betrachters zu Zeichen. Nicht zwingend zu Wegweisern zwischen Diesseits und Jenseits oder sonstiger Esoterik, aber doch zu Marksteinen von Stille und Kontemplation, die gleichsam die Situation ihrer künstlerischen Entstehung miterzählen. Darin besteht die Qualität der Zeichnungen, die als Ausweitungen des Erzählens verstanden werden können und zugleich aus sich selbst heraus erzählen.
Picardie Baum“glas“fenster (Tafel 34) / © 2019 by Peter Handke / Sophie Semin Handke
Bilder, die diesen Eindruck bestärken, findet man in diesem Band noch einige mehr. Allen voran Handkes Zeichnung der Fensterrosette von Notre-Dame de Paris. Am 13. November 2015 entstanden, bekommt die Zeichnung nach dem Brand des Kathedralendachs im April dieses Jahres eine andere erzählerische, vielleicht sogar leicht ikonische Qualität, die sie zuvor so wohl nicht besaß. Abseits dieser zu „Großerzählungen“ gewordenen Miniaturen finden sich in diesem Band zahlreiche Bilder von Pflanzen und Tieren, seltener von Menschen, die vor allem kleine Szenen der Wahrnehmung bezeugen. Dass unter ihnen auch der ein oder andere Pilzabdruck nicht fehlt, dürfte beim Handke-Kenner ein Lächeln hervorrufen. Neben ihrer ästhetischen Qualität sind diese Abdrücke der letztendliche Beweis für das natürliche Zustandekommen des Bildes innerhalb der Notizbücher Handkes.
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