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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Die arbeitende Hefe der Verwandlung

Mit atemberaubenden Bildern und einer eindringlichen Sprache öffnet sich der französische Dichter Philippe Jaccottet einer zutiefst menschlichen Wahrnehmung
Hamburg

Der 1925 in Moudon/Westschweiz geborene Philippe Jaccottet hat, wie es seine Art ist, in aller Stille und Bescheidenheit über Jahrzehnte hinweg ein beachtliches Werk geschaffen. Seit 1953 lebt er im südfranzösischen Grignan in der Drôme und zählt längst zu den besten französischen Dichtern der Gegenwart.

Ursprünglich 1983 in Paris erschienen markiert der vorliegende, erstmals komplett in deutscher Sprache übersetzte Band einen Übergang in Jaccottets Werk, der sich bereits seit Längerem angedeutet hatte. In den in Folge erschienen Büchern waren Gedichte fortan einer betrachtenden, lyrischen Prosa gewichen.

Die bestimmenden Koordinaten freilich haben sich in Jaccottets poetischer Wahrnehmung über die Jahre hin nicht verändert. Nach wie vor inspirierend wirkt die enge Verbundenheit mit der Natur und ihren Bergen vor Jaccottets Haustüre, die zu allen Jahreszeiten zu Spaziergängen einlädt. Und nach wie vor prägen intensiv rezipierte Leistungen kultureller Ereignisse wie Bilder, Bücher, Plastiken und Musik Jaccottets Gedankenwelt. Nicht von ungefähr hat die Malerin Anne-Marie Jaccottet, Jaccottets Ehefrau, ein Aquarell für diesen Band beigesteuert.

„Die Gedanken unter den Wolken“ entwickelten sich in einem produktiven Wechsel zwischen der Stille nachdenklicher Meditation wie in der vom Dichter geliebten Begehung der Landschaft:

„(…) Wieder sah ich dies Ernteland im Sonnenschein; das war nicht genug; man durfte sich nicht fürchten vor der arbeitenden Hefte der Verwandlung. Jede Ähre wurde zur Trompete, das Feld zum Orchester von Goldstaub und Stroh; ein Klang blitzte auf, den ich Feuersbrunst nennen wollte, doch nein: wütend, verschlingend konnte er nicht sein, nicht einmal wild(…)“

Derlei Wortverse aus dem Abschnitt „Gedanken unter den Wolken“, welcher im gleichnamigen Band insgesamt sieben unterschiedlich umfangreiche Zyklen vereint, vermengen Beobachtetes mit Empfindungen des Betrachters zu eigenständigen kreativen Erfahrungswelten. Jahre später verdichtet sich das Verfahren in weiteren Büchern, wobei der vorliegende Titel „Gedanken in Wolken“ nicht nur zufällig etwa an das Bändchen „Der Spaziergang unter den Bäumen“(1988) erinnert, das damals von Friedhelm Kemp übersetzt worden waren.

Das „Licht“ begegnet bei Jaccottet in den verschiedensten Lagen und zumeist vermag der Dichter daraus Zuversicht abzuleiten. Zugleich sind Philippe Jaccottet Grenzen des Begreifbaren und auch der menschlichen Sprache nicht fremd. Er läßt sich vom Licht in seinen verschiedensten Erscheinungsformen anregen und doch bleibt zuweilen ein unauflösbares Rätsel, auf das es keine Antwort gibt:

„wenn es, wie’s scheint, keine Macht hat über die Tränen,
wie sollen wir es dann immer noch lieben?“

Es zeichnet die poetische Reife Philippe Jaccottets aus, daß ihn das Wissen um die menschliche Begrenztheit nicht in Verzweiflung stürzt. Vielmehr werden die Sinne der Beobachtung geschärft, die umso demütiger ausfällt:

„Wir, Stotterer mit gebrochener Stimme,
verweht wie Stroh beim leisesten Hauch“

Jaccottets „Gedanken unter den Wolken“ bilden in ihrer Gesamtheit eine sorgsam durchkomponierte poetische Weltsicht ab. Es entfaltet sich eine Transformation, die sich von der Freude nährt, aber die Vergänglichkeit dabei nicht ausklammert. Philippe Jaccottets lyrischer Katalog gibt Auskünfte über ein waches Leben in sensibler Empfindsamkeit. Seine Verse wirken zuweilen wie eine Form von Selbstvergewisserung, um die alltäglichen Herausforderungen, mit denen sich das menschliche Leben konfrontiert sieht, erträglich zu machen. Bei aller Skepsis, die das Leben bereithält, überbietet die geradezu schüchterne Geste, die dem Menschlichen seine eigentliche Würde verleiht, alle noch so rohen Kräfte:

„Doch machtvoller noch, als die Berge
und als jedes blanke Schwert aus ihrer Schmiede
der zerbrechliche Schlüssel des Lächelns“

Für ihre bemerkenswerten Übersetzungsleistungen wurden Elisabeth Edl und Wolfgang Matz mehrfach mit bedeutenden Preisen anerkannt. Auch viele Bücher von Philippe Jaccottet haben sie der deutschen Leserschaft in bewährter Weise zugänglich gemacht. Die zweisprachige Ausgabe belegt, daß es ihnen ein weiteres Mal gelungen ist, eine sprachliche Übertragung seiner Texte durch einfühlsames Hinübertragen zu übertreffen.

Philippe Jaccottet
Gedanken unter den Wolken / Französisch-Deutsch
Französisch | Deutsch Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz
Wallstein Verlag
2018 · 126 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-3260-7

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