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Kritik

Auch die Herbstblumen: ihre Pracht und der Tod

Betörende Bilder und konzentriertes Nachdenken kennzeichnen gleichermaßen die feinsinnigen Wahrnehmungen des Schriftstellers Philippe Jaccottet
Hamburg

„Die blasse, durch Wolken scheinende Sonne erinnert mich plötzlich an einen Gegenstand, den ich als Kind sehr mochte, bei meiner Tante L., in Moudon: ein Pergamentschirm, hinter dem man eine Kerze brennen lassen konnte“. Diese Notiz vom 11. Februar 1994 bildet gleichsam eine Art Erkennungsmuster für die Schreibweise des 1925 in Moudon/Westschweiz geborenen französischen Schriftstellers Philippe Jaccottet. Über Jahrzehnte hinweg hat Jaccottet in dieser charakteristischen Weise Beobachtungen über sein eigenes Leben zu Papier gebracht. Aus diesen über dreißig Schulheften entnahm Jaccottet im Laufe der Jahre Anregungen, die schließlich wie am Beispiel der Sammlung „Fliegende Saat“(1995) zu Büchern wurden. Auch die vorliegende Sammlung „Sonnenflecken, Schattenflecken“ hat Jaccottet aus seinem handschriftlichen Fundus entnommen. Die ausgewählten Notizen, von Jaccottet etwas ironisch als „Gerettete Aufzeichnungen“ bezeichnet, sind im Zeitraum zwischen 1952 und 2005 entstanden. Es ist höchst erstaunlich, daß diese Prosa zum einen eine gewisse Entwicklung im Denken wie Schreiben festhält und zugleich über die Jahrzehnte hinweg das Aufrechterhalten einer gleichbleibenden Wahrnehmungstechnik dokumentiert.

Es sind Aufzeichnung, Erinnerungsfetzen, Gedankensplitter und Notate. Träume werden ebenso festgehalten wie Nachwirkungen von Begegnungen mit Gemälden oder Texten. In Jaccottets Texten verschränken sich kulturelle Einflüsse mit einem intensiv wahrgenommenen Naturraum. Im Jahr 1953 hatte er sich bewußt gegen ein Leben in der Pariser Metropole entschieden und lebt seither mit seiner Frau, der Malerin Anne-Marie Haessler, im südfranzösischen Grignan im Département Drôme.

Die Schönheit der Natur findet sich in Jaccottets Notizen ebenso, wie ein tiefes Empfinden der Begrenztheit allen Daseins. So werden zum Beispiel die Vorgänge um das Sterben seiner Mutter in eindrücklicher Weise zum Ausdruck gebracht. Es ist gerade diese Sensibilität, die es ermöglicht, verborgene Botschaften sichtbar zu machen. Am 04. November 1958 notierte Jaccottet: „Ein Auflodern wie vor der Nacht die Sonne: bevor der Schnee kommt, lodert die Erde, zeigt ihren Reichtum. Auch die Herbstblumen: ihre Pracht und der Tod. Schleiereule, tot auf meinem Fenstersims gefunden, an einem Oktobermorgen“.

Ganz offensichtlich hat sich die Zurückgezogenheit in der Provinz inspirierend auf Jaccottets poetische Existenz ausgewirkt. Neben seinen Gedichten und der betrachtenden Prosa beeindruckt auch eine gewaltige Übersetzerleistung. Philippe Jaccottet hat Schlüsselwerke aus dem Italienischen, Spanischen, Russischen und vor allem immer wieder aus dem Deutschen in das Französische übertragen. Auch den umfangreichen Romantorso „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil hat Jaccottet übersetzt. Ohne Zweifel hat Jaccottet die Aufgabe eines europäischen Brückenbauer übernommen, der in zurückgezogener Unermüdlichkeit dafür Sorge trägt, daß fremde Stimmen einen angestammten Platz erhalten. Auch insofern verwundert es nicht weiter, wenn Philippe Jaccottet in den vorliegenden Aufzeichnungen immer wieder auf Erlebnisse mit Menschen zu sprechen kommt. Er ist Dichtern und Schriftstellern wie René Char, Francis Ponge oder Guiseppe Ungaretti begegnet. Eine besondere Nähe war im Laufe einer fünfzigjährigen Freundschaft war zu dem Dichter, Kunstkritiker und Übersetzerkollegen André du Bouchet zustande gekommen. André du Bouchet hatte bis zu seinem Tod am 19. April 2001 eine knappe Stunde Fahrzeit entfernt in Truinas im Département Drôme gelebt.

Nachdem 2013 in Frankreich „Sonnenflecken, Schattenflecken“ erstmals erschienen war, hatte sogleich eine große öffentliche Aufmerksamkeit eingesetzt. Es liegt ein ausgesprochener Glücksfall vor, daß sich die beiden Übersetzer Elisabeth Edl und Wolfgang Matz dieser Veröffentlichung angenommen haben. In einem engagierten Nachwort geben sie Auskünfte über ihre langjährige Beziehung zu Philippe Jaccottet.

Als Philippe Jaccottet 2014 die seltene Ehre zuteil wurde, bereits zu Lebzeiten in die legendäre „Bibliothèque de la Pléiade“ aufgenommen zu werden, wurde er damit nicht zuletzt auch als ein großer europäischer Dichter geehrt.

Philippe Jaccottet
Sonnenflecken, Schattenflecken
Übersetzt von Wolfgang Matz, Elisabeth Edl
Hanser
2015 · 272 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3-446-24769-7

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