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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

Auf dem Bindestrich des Horizonts

Neue Gedichte und Prosagedichte von Yves Bonnefoy
Hamburg

Sie besitzen ehrwürdige Namen in der französischen Literatur, beide sind Lyriker, Essayisten und Übersetzer, der eine 1925 geboren, der andere 1923, dennoch könnte man sie als Gegenspieler betrachten, der eine auf das Sichtbare eingeschworen, der andere mehr der Imagination zugetan — die Rede ist von Philippe Jaccottet und Yves Bonnefoy, die mit zahlreichen Übersetzung im Deutschen vertreten sind, zuletzt vor allem im Carl Hanser Verlag durch die unablässige Bemühung von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, die nun eine integrale Übersetzung von Bonnefoys „La longue chaîne de l’ancre“ (2008) vorgelegt haben, einem schmalen, dennoch inhaltsschweren Bändchen, das wichtige Themen und Motive im Gesamtwerk des Autors aufgreift und variiert.

„Erinnern ist vergessen, ich werde dich vergessen haben, wenn ich glaube, dein Gesicht zu sehen“, sagt gleich im ersten Stück („Das Durcheinander“) ein Mann zu einer Frau auf der Bühne. Der Akt des Erinnerns ist für Bonnefoy keine nostalgische Rückschau, sondern eine Vergegenwärtigung der Vergänglichkeit, bei der Diesseits und Jenseits unumstößlich verbunden sind, Anfang und Ende, Kindheit und Alter, und die Sprache versucht, diese Antagonismen aufzulösen, wobei vielleicht im Moment des Gelingens alles schon wieder zu anderen Bedeutungen zerfällt, so daß es am Ende ungreifbar bleibt. Angesichts von Ales Stenar beispielsweise, der berühmten schwedischen Schiffssetzung — sie soll das Schiff symbolisieren, das die Verstorbenen ins Totenreich bringt — imaginiert der Dichter die Fahrt „auf jenes Meer zwischen Himmel und Welt“, das die aus dem Himmel geworfene Ankerkette bereits durchmessen hat; in ihrem Zwischenbereich liegt die menschliche Existenz, und die Sprache schafft Verbindungen, Interferenzen.

Doch was sich meiner bemächtigte war, mehr noch als Verwunderung, jene Heiterkeit, die aus dem entspringt, was überrascht, ohne dass man begreifen könnte: jene Freude, die man in der Hoffnung empfindet, dass die Ketten des Verstehens von gestern, von immer, reißen werden und dass man, nicht mehr wissend, endlich mehr sein wird.

So wird das Motiv der Ankerkette an anderer Stelle in dem Band aufgegriffen und epistemologisch aufgeladen. Der senkrechten Bewegung von der Erde zum Himmel, wie sie die Ankerkette beschreibt, und die bei Bonnefoy vor allem eine zeitliche Dimension hat, strebt eine andere Bewegung entgegen, kreuzt sie: die horizontale. Das sind die Wege, das Drinnen und Draußen:

Nach draußen denken,
wir können’s nicht. Das Ohne-Namen begreifen,
das Ohne-Fähigkeit-des-Bedeutens,
wir können’s nicht, das wäre, mit dem Fuß
gegen einen Leichnam stoßen im Grabe.

Die Texte aus „Die lange Ankerkette“ machen die Grenzen von Prosa und Gedicht, von Erzählung, Traumbericht und Bühnenmonolog zuweilen durchlässig füreinander, wobei es natürlich eindeutig definierte Gattungen gibt, etwa die „Fast neunzehn Sonette“. Jedoch auch hier greift Bonnefoy Metaphern und Kernwörter aus seinem bisherigen Werk auf, um sie durch Variation zu vertiefen oder umzutönen, den Traum, die Kindheit, den Stein, die Namen. Anders als die Gedichte könnte man die Prosastücke vornehmlich als traumartige Szenerien bezeichnen, das heißt: nicht als Traumnotate, wie sie der Surrealismus pflegte, sondern als Allegorien, die einer künstlich hervorgerufenen Traumlogik folgen. In dem märchenhaften „Der große Vorname“ ist ein Mädchen aus dem Garten des Palastes fortgegangen, es befindet sich in einem Traum und wacht erst dann auf, wenn ihr endlos langer Vorname zuende gerufen ist. Was also ist Traum, was ist Realität? Die Grenzen verschwimmen, die Definitionen werden paradox.

Der Waldsaum ist nah, er überschreitet ihn, er ist schnell unterm Blätterdach, er dringt ohne umzuschauen in diesen Wald, wo alles Weg ist, wo nichts irgendwohin führt.

Nach der Vertreibung aus dem paradiesischen Garten erklärt Adam in einem anderen, thematisch verwandten Prosastück: „Ich habe aufgehört, Namen geben zu wollen“, worauf Eva erwidert: „Ich möchte allem einen Namen geben, einfach nur das, dem Schwarz, dem Schwarz der Augen, dem Schwarz, wenn es nichts außer ihm gibt, wenn es nichts anderes mehr gibt.“ Der Akt des Namengebens ist die Erfindung der Sprache, mittels derer die Welt ein zweites Mal, in diesseitiger Gestalt, entsteht: „Und nun folgen Regenschauer, heftige Güsse, dann kehrt der Himmel zurück über das, woraus die Worte etwas erschaffen müssen, wohl so eine Art Erde.“

Eine Definition der Sprache: ein Hier, welches das Anderswo einatmet und ausatmet, Meduse von den Ausmaßen eines Meeres, das die Welt wäre.

Alles steht in Bonnefoys Werk im Zeichen einer großen Ambivalenz, alles tendiert dazu, die traditionell definierten Seinsbereiche zu verlassen, in denen allein die Sprache für Ordnung sorgt, ja, selbst die einzige Ordnung ist. Doch ist Sprache bei ihm nicht tot, abgestorbenes linguistisches Material, sondern lebhafte Auseinandersetzung mit metaphysischen Inhalten, existenziell und immer unbeirrbar poetisch.

Yves Bonnefoy
Die lange Ankerkette
übersetzt von Wolfgang Matz, Elisabeth Edl
Hanser
2014 · 136 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
978-3-446-24132-9

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