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Kritik

Dulden, kämpfen, fliehen

Hamburg

Gül steht am Fenster ihrer Altbauwohnung in Bremen und blickt auf die Straße hinab. Sie ringt mit sich: Soll sie das neue Tastentelefon nehmen und bei der Familie in der Türkei anrufen? Oder runter zu dem jungen Mann, der geklaute Telefonkarten für fünf Mark vertickt? Schließlich entscheidet sie sich für diese Option. Es ist ihr lieber als neue Diskussionen mit Fuat, ihrem Mann, über die Telefonrechnung. Überhaupt geht es zwischen ihnen viel zu oft um Geld, dabei sollte das doch gar keine Rolle spielen, oder? Außerdem: Seit sie weiß, dass Fuat sie betrogen hat, ist ihr ohnehin nicht mehr nach Gesprächen mit ihm.

Acht Jahre war sie in der Türkei, und doch ist sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Inzwischen fühlt sie sich in beiden Ländern nicht mehr so richtig heimisch. Ihr gebrochenes Deutsch ist ihr oft peinlich. Dabei sind ihre Tochter Ceyda und deren Kinder hier gut angekommen...

Selim Özdogans neuer Roman „Wo noch Licht brennt“ beginnt in den Neunzigern an einem nächtlichen Küchentisch in Bremen, und er erstreckt sich fast bis ins Heute. Der etwas unvermittelte Einstieg ist kein Zufall. Das Buch ist der Abschluss einer Trilogie. Aber man kann es auch dann ohne Verständnisprobleme lesen, wenn man die Vorgänger „Die Tochter des Schmieds“ (2005) und „Heimstraße 52“ (2011) nicht kennt. Zu empfehlen ist deren Lektüre aber sehr. Zusammen schlagen die drei Romane einen Generationenbogen zwischen Deutschland und der Türkei, eine Gastarbeitergeschichte, die vom Blues der anatolischen Provinz bis ins Norddeutschland des neuen Jahrtausends das Leben der Protagonistin Gül begleitet.

Während die Generation von Güls Tochter Ceyda zwar einen vielfältigen Bezug zur Türkei hat, an sich aber ein deutsches Leben lebt, ist Gül von ihrer Entwurzelung geprägt – aber auch von dem unbändigen Willen, nicht aufzugeben, so sehr sich mit den Jahren auch die Resignation Raum verschafft. Fuat malocht im Schicht- und Nachtdienst, verbringt seine Freizeit vor dem Fernseher und schimpft über die Ungerechtigkeit, dass er trotz harter Arbeit nie auf einen grünen Zweig kommt. Gül ist genügsamer. Sie putzt in einer Buchhandlung, abends, nach Ladenschluss, da, wo noch Licht brennt – und ist erstmal froh, nach ihrer Rückkehr überhaupt so rasch eine Arbeit gefunden zu haben.

„Es gibt drei Möglichkeiten, dem Leben zu begegnen: dulden, kämpfen, fliehen.“ Gül hat das alles durch, wie sie dem Leben begegnet, kommt auf die jeweilige Situation an. Die Frage, was Heimat eigentlich ist, stellt sich für Gül kaum noch. In der Türkei konnte sie nicht mehr Fuß fassen, in Deutschland bleibt sie fremd, und von ihrem Mann hat sie sich entfremdet. Es war ohnehin keine Heirat aus Liebe. Umso wichtiger ist ihr Tochter Ceyda. Aber auch der Kontakt zur Familie in der Türkei ist mehr als nur ein gelegentlicher Anruf oder Besuch, sondern etwas, in dem immer die Sehnsucht mitschwingt. Wird sie doch noch einmal zurückkehren, doch noch einmal bleiben?

Selim Özdogan erzählt Güls Geschichte mit leisen Tönen und großem Einfühlungsvermögen. Er öffnet seinen Lesern die Tür in eine Welt, die unvorstellbar ist für jeden, der selbst keine Migrationserfahrung gemacht hat und gibt Menschen eine Stimme, die auch nach Jahrzehnten in Deutschland noch viel zu selten gehört und noch weniger verstanden werden. Damit ist ihm ein höchst zeitgemäßes Buch gelungen, man kann sagen: Eine Pflichtlektüre für all jene, die bei der Debatte um das Thema Zuwanderung etwas sagen möchten. Er verkneift sich dabei jegliche Sentimentalitäten, und das ist gut so. Der Roman, so der Verlag, sei „ein wirksames Gegengift in unserer von Vorurteilen und Fremdenangst“ bestimmten Zeit. Dem widersprach der Autor unlängst in einem Interview. Immerhin erreicht solche Literatur in der Regel nur jene Leser, die ohnehin offen für die Thematik sind. Aber, und darauf kommt es an: Es könnte ein Gegengift sein. Denn wer Vorurteile hat und dieses Buch liest, wird hinterher keine Argumente mehr haben, mit denen er seine Vorurteile stützen könnte.

Selim Özdogan
Wo noch Licht brennt
Haymon Verlag
2017 · 344 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3-7099-7299-1

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