Jenseits der Westliteratur
„Es ist ein Gefährte derer, die in der Nacht wach sind; einer, der dich nicht anredet, wenn du beschäftigt, der dich aber einlädt, wenn du gut aufgelegt bist, der dich nicht zwingt, dich ihm gegenüber liebenswürdig zu erweisen oder dich vor seinem Tadel zu hüten“,
schrieb Al-Dschahis (777-869) über das Buch.
Stefan Weidner stellt das (noch ausführlichere) Zitat seinem neuen Werk „1001 Buch. Die Literaturen des Orients“ (Edition Converso) programmatisch voran: Was auf den nächsten 430 Seiten folgt ist nicht nur eine literarische Spurensuche jenseits des Westens, sondern auch und vor allem eine Liebeserklärung an die Bücher und an das Lesen, nicht zuletzt eine engagierte Aufforderung, ausgetretene Pfade zu verlassen und sich auf Neues einzulassen.
„Paradoxerweise“, schreibt Weidner“, „ist in Zeiten des rapiden Umbruchs die Langsamkeit der Literatur und des Buchs ein Vorteil.“ Zeiten des Umbruchs sind damit gemeint, wie sie nicht nur in der arabischen Welt zuletzt seit den Umstürzen ab 2011 bestehen, sondern auch im hiesigen, oft von Unkenntnis, Klischees und Ressentiments verstellten Bild der Region. Dass in diesem Zusammenhang das Klischee im Titel und der Begriff „Orient“ spätestens seit Edward Said keineswegs unproblematisch sind, räumt Weidner folgerichtig im Vorwort ein – und schon steht der Leser in der Situation, den eigenen Standpunkt hinterfragen zu müssen. Das ist unbequem, und das ist gut so.
Was wissen wir in Deutschland über den literarischen Reichtum, die gigantische Vielfalt der Literaturen der, vereinfacht gesagt, islamisch geprägten Länder? Leider nicht viel – und das, obwohl deutlich mehr ins Deutsche übersetzt wird als in andere Sprachen, mal abgesehen vom Französischen und Englischen. Nicht viel, obwohl bereits vor Jahrhunderten Pioniere wie Hammer-Purgstall und Rückert versucht haben, die Klassiker des Ostens zu uns zu holen – zwei Übersetzer übrigens, in deren Tradition man Weidner durchaus stellen darf, der Ähnliches geleistet hat spätestens mit seiner sensiblen Übersetzung von Ibn Arabi.
Vom Koran über die mittelalterlichen Dichter (und Dichterinnen, um ein weiteres Orientklischee zu zerschlagen) bis zu den formalen und inhaltlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts und Romanen der letzten Jahre begibt sich Stefan Weidner detail- und kenntnisreich auf eine Wanderung durch Bücher und Bibliotheken, durch Verse und Geschichten, durch Biografien und die Untiefen von Übersetzungen. Gerade anhand des Koran und anhand von Klassikern wie Hafis oder Rumi erläutert er, wo die Schwierigkeiten der Übersetzung vom Persischen und Arabischen ins Deutsche liegen, legt dar, welche Übersetzungen bei wichtigen Klassikern vorzuziehen sind, und warum. Und anhand der Bücher und Biografien von Autorinnen und Autoren liefert er ganz nebenbei einen historischen Abriss der wichtigsten nahöstlichen Literaturnationen.
Die Frage, weshalb wir diese Bücher lesen sollten, beantwortet sich dabei ganz von selbst: Weil sie uns angehen. Und weil sie oft große Literatur, Weltliteratur sind. Stefan Weidner versucht, eine Lücke zu schließen: Denn egal ob in der schulischen oder der universitären Bildung, egal ob im Feuilleton oder in den Buchhandlungen und Bestenlisten, es besteht ein unguter Fokus auf westlicher, also meist europäischer und nordamerikanischer Literatur. Das Ergebnis ist im besten Fall Halbbildung, im schlechtesten ein grob verzerrtes Weltbild, dem die östliche Perspektive fehlt. Dabei sind Übergänge und Anknüpfungen zwischen Ost und West gerade in der Literatur fließend. Auch das eine große Leistung Weidners: Aufzuzeigen, dass die Angst, arabische Literatur könnte zu fremdartig sein, völlig unbegründet ist.
Darf man hier also einen umfassenden Überblick über „Die Literaturen des Orients“ erwarten? Nein, keineswegs. Der Schwerpunkt liegt auf der arabischen Literatur. Die persische und türkische macht zusammen etwa ein Viertel des Werkes aus. Und wer sich in der Materie auskennt, wird über manche Lücke stolpern – und sich zum Beispiel fragen, weshalb ein Jahrhundertroman wie Oguz Atays „Die Haltlosen“ keine Erwähnung findet. Oder sich wundern über einen Satz wie diesen zur weiblichen iranischen Literatur: „Nachdem [Simin] Daneshwar 2012 im Alter von einundneunzig Jahren verstarb, fehlen die hochkarätigen Autorinnen.“ Was ist mit Fariba Vafi, von der inzwischen drei Romane auf Deutsch vorliegen, und die zweifellos eine herausragende Schriftstellerin ist? Oder Zoya Pirzad?
Wer bereits eine Verbindung zur arabischen, persischen, türkischen Literatur hat, wird bei Weidner trotzdem eine Vielzahl an Einsichten und Anregungen zum Weiterlesen finden, kann Hintergrundwissen vertiefen und anhand der zahlreichen vorgestellten Bücher Entdeckungen machen (denn oft ist es gar nicht so einfach, auf einzelne Werke aufmerksam zu werden, nicht zuletzt, da viele dieser Übersetzungen in Kleinverlagen und unter dem Radar der Feuilletons publiziert werden.
Wer hingegen noch gar keine oder nur sporadische Berührung mit „orientalischer“ Literatur hatte, darf die von Weidner ausgesprochene Einladung annehmen, darf sich von ihm an der Hand nehmen und durch eine reich bestückte Bibliothek führen lassen – und wird dort mit Sicherheit den ein oder anderen Ort zum Verweilen finden.
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