Literatur: Blaupausen der Integration
„Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“ - dieser Satz stammt von Friedrich Rückert, dem wir nicht nur Übersetzungen persischer und arabischer Dichtung zu verdanken haben, sondern auch die vielleicht sprachlich beeindruckendste Koran-Übertragung. Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner zitierte ihn ihn seiner Festrede anlässlich des 150. Todestages Rückerts im April 2016. Es ist ein romantisierender Ausspruch, der heute seltsam anmutet, in einer Zeit, in der Poesie kaum mehr eine Rolle spielt und kaum mehr gelesen wird. Dieses Dilemma spart Weidner nicht aus. Sein Essay „Fluchthelferin Poesie“, soeben bei Wallstein, Göttingen, erschienen, erweitert die letztjährige Festrede zu einer Auseinandersetzung mit Fragen der Flucht, sei es in ein anderes Land, sei es in geistige Sphären, am Beispiel Rückerts, und stellt auch dessen Orientbild dem heutigen entgegen.
Es sind Fragen, die gestellt werden müssen in Zeiten globaler Fluchtbewegungen, die vielerorts mit Ressentiments, Hass, Ausgrenzung und einem Erstarken rechter bis rechtsradikaler Haltungen einhergehen. Die Literatur könnte Abhilfe schaffen. Betonung auf „könnte“. Im Grunde müsste es jetzt, da Hunderttausende Menschen aus arabischen Ländern nach Deutschland gekommen sind – unter ihnen auch einige geflüchtete Schriftsteller – einen Boom der Literatur aus eben jenen Ländern geben. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wurde während des arabischen Frühlings vergleichsweise viel übersetzt, erscheinen momentan fast gar keine Übersetzungen aus dem Arabischen ins Deutsche. Eine Zunahme gibt es, blickt man in die Verlagsprogramme für 2017, hingegen bei türkischer Literatur, und auch neue Übertragungen von iranischen Autoren kommen in Deutschland an, wenn auch meist in Kleinverlagen. „Die Deutschen machen Urlaub in der Türkei, interessieren sich aber nicht für türkische Literatur“, beklagte Stefan Weidner im vergangenen Jahr. Und das obwohl 2016 mit Oguz Atays „Die Haltlosen“ ein Meilenstein der Weltliteratur erstmals hierzulande erschien. Ein Buch, das mit James Joyce' „Ulysses“ verglichen wird. „Das Meisterwerk eines spielfreudigen Sprachkünstlers“, nannte es die FAZ.
Es scheint am Ende aber so, dass sich selbst die gebildeten Schichten schwer tun mit allem, was irgendwie als „fremd“ erscheint. Wenn es um ausländische Literatur geht, blickt man in die USA oder nach Skandinavien, in die EU-Länder. Aber so gut wie nie nach Asien oder Afrika. Dabei erleben manche Werke aus Ländern, in denen die Kultur unter rigider Zensur leidet, gar bei uns ihre Erstveröffentlichung – zum Beispiel mehrere Romane des Teheraners Amir Hassan Cheheltan, der mit seiner Teheran-Trilogie ein Panorama der Geschichte seiner Heimatstadt in den letzten hundert Jahren auffächert und sich in seiner Essay-Sammlung „Teheran Kiosk“ als genauer und sensibler Beobachter des iranischen Alltags erweist.
Aber zurück zu Weidner, der in seinem Essay ein Gedicht von Rückert zitiert:
Oh kommt im schlichten Hemde
Zum buntgemischten Mahl!
Ihr sollt, und seid ihr fremde,
Nicht fremd' sein hier zumal.
Ich bring euch als die meinen
So möget ihr erscheinen
Im deutschen Gastversammlungssaal.
Diese Verse schrieb Friedrich Rückert im Jahr 1846 – und sie sind heute aktueller denn je. Der Orient, „das war ein offenes Feld für Projektionen“, schreibt Weidner über Rückerts Zeit. Und tatsächlich findet man nicht nur bei ihm, sondern auch bei anderen Literaten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts oft eine Romantisierung, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Und zwar, weil man über den realen „Orient“, die Länder Afrikas und Asiens oder vereinfachend den islamischen Kulturraum, nicht wirklich viel wusste. Reisen konnten nur wenige, Massenmedien gab es noch nicht. Die Texte der Dichter waren eine zu erschließende Quelle.
Weidner: „Rückerts poetische Flucht in den Orient im neunzehnten Jahrhundert findet dabei eine verblüffende strukturelle Entsprechung in der realen Flucht vieler Menschen aus der arabischen und der islamischen Welt nach Europa heute.“ So wie der Orient für Rückert „imaginär“ und „Projektionsfläche“ gewesen sei, so sei auch heute für „viele Araber und Muslime der Westen und besonders das in hohem Ansehen stehende Deutschland eine Projektionsfläche, ein Hoffnungsort.“ Daher sei „der spätere Aufprall in der Wirklichkeit umso bitterer“.
Heute hat man freilich ganz andere Möglichkeiten. Anstatt in vorurteilsbelasteter Dauer-Empörung sich darüber zu echauffieren, dass viele Geflüchtete auf der Flucht ihren Pass entsorgen, könnte man, um nur ein Beispiel zu nennen, Abbas Khiders Roman „Ohrfeige“ lesen, in dem der in den späten Neunzigern aus dem Irak geflüchtete Schriftsteller unter anderem auch über die Gründe schreibt, die zum Verschweigen oder Verschleiern der eigenen Herkunft führen. Man könnte zu verstehen versuchen – und am Ende erkennen, dass man selbst nicht anders handeln würde, wäre man in der Lage jener, über die man so abfällig in der dritten Person spricht. Und zwar nicht nur an analogen wie digitalen braunen Stammtischen, sondern bis in die Mitte einer Bevölkerung hinein, die es schon aufgrund der eigenen Geschichte besser wissen sollte.
Man könnte aus Abbas Maroufis Roman „Fereydun hatte drei Söhne“ erlesen, wie sich ein Mensch fühlt, der fern der unfreiwillig verlassenen Heimat die Kraftanstrengung zu unternehmen versucht, sich etwas Neues aufzubauen in der Mitte des Lebens und in der ständigen Auseinandersetzung mit dem Vergangenen, mit der eigenen Herkunft und den Ursachen für die meist alles andere als angenehme Lage. „Selten ist der Schmerz des Exils, sind die vielen Facetten der Sehnsucht, die Einsamkeit in der Ferne so intensiv dargestellt worden“, sagt Ilija Trojanow, der das Buch in der Edition Weltlese der Büchergilde Gutenberg herausgibt. All das könnte man lesen und das identitäre Gewäsch, das sich seit zwei Jahren verstärkt ausbreitet, als den zutiefst dummen Unfug erkennen, der er ist.
„Blaupausen der Integration“ nennt Weidner in „Fluchthelferin Poesie“ die Übersetzungstheorien von Rückert über Benjamin bis Schlegel, und weist auf das Entwicklungspotenzial hin, das Übersetzung und Nachdichtung für Sprache und im selben Zug für die immer notwendige kulturelle Öffnung und Durchdringung haben – wenn Übersetzung als mehr verstanden wird als die bloße wortgenaue Übertragung, die in der Lyrik ohnehin kaum machbar ist: „Es sind Theorien (…) für ein Zusammenleben in mehrkulturellen Gesellschaften, vorausgesetzt, die Sprache (respektive die Gesellschaft) wird nicht als immer schon fertig, sondern als sich fortlaufend entwickelndes Projekt begriffen.“
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