"Don't Take My Boop-Oop-A-Doop Away"
An und für sich handelt es sich bei dieser Graphic Novel um eine triviale Geschichte: Elisabeth B. verliert wegen Brustkrebs ihre linke Brust und wegen begleitender Chemotherapie auch noch ihre Haare. Dadurch hat sie in Folge den Verlust von Mann und Job zu beklagen. Durch eine Burlesque-Truppe ("Cabaret Théâtre") findet die Protagonistin zu ihrem Selbstbewusstsein zurück, und wird ein gefeierter Star.
Betty Boop ist eine US-amerikanische Cartoon-Figur von Max Fleischer aus den 1930er Jahren. Mit kurzem Rock, Strumpfband und lockiger Bob-Frisur hatte sie Sexappeal, im Gegensatz zu anderen weiblichen Cartoon-Figuren wie zum Beispiel Minnie Maus, die beinahe geschlechtslose Wesen waren. Das konnte in den prüden USA aber nicht lange gutgehen: Durch den "Production Code" von 1934, der "moralisch akzeptable Darstellungen" in US-amerikanischen Spielfilmen erzwang, wurde sie gezähmt. Sie durfte sich fortan nicht mehr sexy geben, sondern nur noch als brave Hausfrau. Das war dann doch zu bieder, so dass die Serie 1939 eingestellt wurde.
Die französische Comic-Szenaristin Véronique Cazot und die kanadische Storyboard- und Charakter-Designerin Julie Rocheleau greifen in ihrer Graphic Novel die seinerzeit gescheiterte Betty Boop wieder auf. Also eine Reinkarnation der legendären Betty Boop: Aber nicht mehr als Sexsymbol aus männlicher Sicht, als Objekt der Begierde, sondern als emanzipierte Frau aus weiblicher Sicht. Und diese auch nur mit einer Brust. Deswegen "Boob", und nicht "Boobs". Eigentlich wird dieses Slang-Wort nämlich immer nur in der Mehrzahl verwendet, als "Big Boobs", entsprechend "Big Tits": "Brüste" bzw. "Möpse". Das buntgrelle, beinahe schon psychedelische Cover mit nackter Brust und "BETTY BOOB" in großen Lettern könnte auch auf "einschlägige" Publikationen anspielen. Mit dem wichtigen Unterschied: Ihm fehlt das "S". Entsprechend: Es fehlt eine Brust.
Es handelt sich um eine Geschichte voller Verlust und Trauer, die sich dann aber Dank einer Chance zu etwas Hoffnungsvollem und Glück wandelt. Also Krise auch im Sinne von Chance verstanden. Anfangs versucht Betty, ihren Makel zu kaschieren: ein immer wieder frischer Apfel als Brustersatz, sowie eine Perücke.
Die kapitalistische Chefin eines großen Kaufhauses, symbolisiert durch ihre großen Ohrringe in Form des $-Dollar-Zeichens, verlangt von ihrer Angestellten, der Verkäuferin Elisabeth B., dass sie zwei Brüste haben müsse (im vorgehaltenen Arbeitsvertrag steht: Lächeln, zwei Brüste, 45 Kilo). Das Kaufhaus heißt "Traubbon Pourtoy". Wenn man diesen Namen französisch ausspricht, kann man es gleichlautend schreiben als "trop bon pour toi". Das ist also eine Verfremdung für "zu gut für dich". Gleichzeitig klingt der Name ähnlich wie "Le Bon Marché", also eines der großen Pariser Kaufhäuser.
Die Chefin schickt Betty wegen verrutschtem Apfel (= linke Brust) zu dem Laden "Le Sein-Graal", der Luxusbrüste anbietet. Viele der wenigen Wörter im Buch sind nicht vom französischen Original ins Deutsche übersetzt worden. In diesem Fall ist es auch schwierig, da es sich um ein französisches Wortspiel handelt: "Le Saint-Graal" ist der Heilige Gral, und "le sein" ist die Brust. "Le sein du Graal" wäre also die Gralsbrust. Außerdem wird mit dieser Gegenüberstellung angedeutet, dass die Brust etwas Heiliges ist. Es gibt also mehrere Stellen im Buch, bei denen sich die wenigen Worte - im Original belassen - nur dem Leser erschließen, der einigermaßen der französischen Sprache mächtig ist.
Später entscheidet sich Betty aber sowohl gegen eine "High-Tech"-Brust als auch einen Apfel als Ersatz, sondern mutet sich einbrüstig anderen zu. Dafür wird sie sowohl von ihrem Mann als auch von ihrer Chefin gnadenlos abgestraft. Als sie ihrer weggewehten Perücke hinterherjagt, gelangt sie durch Zufall zu einer bunten Gruppe. Eine Burlesque-Truppe, die das Anders-Sein ihrer Mitglieder nicht nur toleriert, sondern es sogar begrüßt. Das ist ein starker Kontrast zu der oberflächlichen Mainstream-Gesellschaft, die (nur) auf Äußerlichkeiten achtet, bei der einen fehlenden Brust also einen schwerwiegenden Makel darstellt. Auch andere dieser bunten Truppe haben ihre Makel: Eine hat eine silbern glänzende Unterschenkel-Prothese. Eine ist schwergewichtig, ihre fetten Brüste werden durch eine Textblase mit einem Gewicht "2 Ton[nen]" markiert. Eine hat dagegen zu kleine Brüste, eine Textblase markiert sie mit einem Bügeleisen (Brüste so flach wie ein Bügeleisen). Einer hat einen zu kleinen Penis, als Betty ihn sieht, denkt sie eine Erdnuss, das sind also Peanuts (für sie).
Durch einen Zufall gerät Betty in die laufende Bühnenshow. Sie wird daraufhin improvisiert vorgestellt als "... und äh ... Betty ... Betty one boob ...", woraus dann ihr Künstlername Betty Boob wird. Auch mit ihrer neuen Perücke wird sie äußerlich der Comicfigur Betty Boop sehr ähnlich. An der Stelle in der Graphic Novel, wo Elisabeth B. zum Star Betty Boob wird, ist als Anspielung in einer Zeichnung auch die originale Comicfigur Betty Boop in einer für sie typischen, aufreizenden Pose zu sehen: Mit enganliegendem, schwarzen Abendkleid vor einem riesigen roten Herzen.
In dieser freien und offenen Umgebung der Burlesque-Truppe entwickelt Betty für sich eine selbstbewusste Mode, bei der sie ihre fehlende linke Brust offen "trägt": Ihre Operationsnarbe wird an dieser Stelle durch ein mit Lippenstift skizziertes Herz oder eine gezeichnete rote Rose dezent kaschiert. Bei den biederen und spießigen Mitbürgern erregt sie dabei Anstoß. Aber dennoch wird sie damit und mit ihrer Bühnenshow weltberühmt.
Über die Autorin Véronique Cazot gibt es nur wenigen Informationen. Auch die Graphic Novel kommt mit sehr wenig Text aus. Zwischen den einzelnen Kapiteln gibt es jeweils Zwischentitel in weißer Schrift auf zwei schwarzen Seiten großzügig platziert. Das ist eine Anspielung auf Stummfilme, macht also klar, dass dieses Buch ganz bewusst ohne viele Worte auskommen möchte. Dadurch wird der Zeichenstil aber auch umso wichtiger. Dabei gelingt es der Zeichnerin Julie Rocheleau ganz hervorragend, Gefühle und Stimmungen auszudrücken, und das ganz ohne Worte. Ihr Zeichenstil ist überbordend und -brausend, er schwelgt in rauschhaften Farben und Bewegungen. Der Brustkrebs wird eingangs durch "echte" Krebse symbolisiert, die Elisabeth Bs. gepiercte linke Brust in Scharen angreifen. Bettys Hinterherjagen der verlustig gegangenen Perücke hat schon eine (tragische) Komik in diesem Comic.
Es geht also in dieser Graphic Novel um Weiblichkeit, Feminismus (dafür bürgen auch Autorin und Zeichnerin). Sie haben mit "Betty Boob" ein Symbol für eine gelungene weibliche Emanzipation geschaffen. Wobei dieses Thema auch für Männer interessant ist, da doch Krebs generell existentiell, existenzbedrohend ist, und darum geht es ja in diesem Buch. Ein schwieriges und ernsthaftes Thema wird hier auf schrille und leicht(wirkend)e Weise adäquat in eine Bande dessinée umgesetzt. Das ist der französische Begriff für Comic, und man sollte sich bewusst sein, dass Comics im französischsprachigen Raum eine ganz andere Stellung haben als in Deutschland, nämlich als eine anerkannte Form der Kunst gelten, ganz so wie Bücher, Schallplatten oder Spielfilme auch. Alles in allem handelt es sich bei "Betty Boob" um eine gelungene Gesellschaftskritik.
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