Die Folgenlosigkeit der eigenen Untätigkeit
12. Dezember 2018 / Wilhelm Genziano 1943 - 2018
Es fällt schwer, sich an Genazinos Romane zurückzuerinnern. Die Handlungen vermischen sich in der Rückschau in einen schwer zu unterscheidenden Brei. Zu ähnlich sind sich die einzelnen Protagonisten. Meist gescheiterte Geisteswissenschaftler, schleichen sie durch die Frankfurter Innenstadt, sinnieren über ihr Leben und ihr Versagen und hadern mit ihren Frauenbeziehungen. Das war so in „Die Liebesblödigkeit“ (2005), eine Dreiecksgeschichte zwischen zwei Frauen, oder in „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ (2009), als der Kinderwunsch der Freundin den passionierten Phlegmatiker Gerhard Warlich langsam aber unaufhörlich in die Verzweiflung trieb. In „Die Ausschweifung“ (1981) scheitert die Ehe von Eckhard und Ruth, wie millionenfach anderswo auch, an der Tristesse des Alltags; eines Tages stellen die beiden fest, dass sie die Dinge des Lebens nur mehr zusammen und am gleichen Ort, nicht aber länger gemeinsam unternehmen. Der Erkenntnis folgt die Ratlosigkeit, die ihrerseits jedoch folgenlos bleibt.
Die Folgenlosigkeit ist eine Konstante in Genazinos Geschichten. Selbst wenn das eigene Elend als solches erkannt wird, Konsequenzen werden nicht gezogen. Das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen, gehört nicht zum Repertoire der Genazino’schen Antihelden. Stattdessen läuft alles wie gehabt. Das Leben geht weiter, der nächste Roman kommt bestimmt.
Am besten jedoch ist Genazino ausgerechnet ein Buch gelungen, in dem er sich dem bewährten Erzählschema zumindest partiell entzieht: Die 2003 veröffentlichte Geschichte „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“. Darin wandelt ein 17-jähriger Schulabbrecher zwischen seiner Ausbildung zum Speditionskaufmann und der Tätigkeit als Lokaljournalist, angetrieben vom Wunsch, ein Leben als Schriftsteller zu führen. Am Ende des Buches hat er zwar noch keinen Roman geschrieben, aber immerhin eine eigene Wohnung und obendrein die Bekanntschaft von mehr als einer Frau gemacht.
Genazinos neuestes Buch, „Bei Regen im Saal“, vermag daran nicht anzuknüpfen. Vielmehr fügt es sich in das bekannte Erzählschema früherer Werke ein. Reinhard ist ein Mitvierziger, seinen Plan einer Universitätslaufbahn als Philosoph hat er vor langer Zeit begraben. Seither hangelt er sich mehr schlecht als recht durchs Leben, unter anderem als Barkeeper und Rezeptionist in einem kleinen Hotel. Finanziellen und sozialen Halt gibt ihm seine Freundin Sonja, eine Finanzbeamtin. Sie sagt ihm, wann er seine Kleidung wechseln soll und auch sonst wie die praktischen Dinge der Welt funktionieren. Auf Dauer jedoch erträgt auch sie die Luschigkeit ihres Lebensgefährten nicht, dessen größte sexuelle Freude daher rührt, ihr ausdauernd aufs Geschlecht zu starren. Sie heiratet einen Arbeitskollegen, bleibt unglücklich, und kehrt alsbald zu ihrem Verflossenen zurück. Der geht mittlerweile tatsächlich so etwas ähnlichem wie einer geregelten Beschäftigung nach, als Lokalreporter für den „Taunus-Anzeiger“, einem kostenlosen Annoncenblatt, der von seriösem Journalismus etwa so weit entfernt ist wie Genazinos Bücher von den Romanen eines Joseph Conrad. Lokaljournalisten sollten das Buch spätestens jetzt aus der Hand legen, denn was Genazino – der selbst einige Jahre Journalist war – über deren Beschäftigung zu berichten weiß, lässt selbst die ansonsten nicht sonderlich ambitionierten beruflichen Aktivitäten seiner Charaktere als schöpferische Großtaten erscheinen. Ob man die Entwicklung – Sonja zurück und neuer Job – dennoch als ein halbwegs versöhnliches Ende der Geschichte deuten kann, ist dem Auge des Betrachters überlassen. Wer Genazinos Bücher kennt, wird Zweifel hegen – das nächste Unglück lauert unausweichlich hinter der nächsten S-Bahnkurve.
Doch genau darin besteht ein Problem der Genazino’schen Gedankenwelt. Seine Protagonisten sind allesamt unglücklich. Und sie sind, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, stolz darauf. Dabei hat das Unglück nichts Imposantes, wie Bertrand Russell in seinen Memoiren trefflich dargelegt hat. „Ein Mann, der melancholisch ist, weil er wegen mangelnder Bewegung an der Leber leidet, glaubt immer, dass es der Verlust Gottes oder die Bedrohung durch den Bolschewismus oder irgendein erhabener Grund ist, der ihn traurig macht.“ Die Bedeutung des Satzes ließe sich auf die unzähligen Charakter übertragen, die die Romane von Genazino bevölkern. Trübsinn und Melancholie sind aber nicht zwangsläufig ein Synonym für Gedankenschwere.
In mancherlei verhält es sich mit Genazino wie mit Vladimir Kaminer. Als man vor einigen Jahren zum ersten Mal seine Geschichten in die Hände bekam, hat man nach mehr davon gedürstet. Das ist lange vorbei. Stattdessen ertappt man sich immer öfter dabei, dass einem die immer gleiche Eintönigkeit, die ständige Wiederholung der Motive sowie die Unfähigkeit der Protagonisten, das Leben zu bewerkstelligen, kein Schmunzeln mehr entlockt, sondern, im Gegenteil, die Nerven strapaziert. Die Zeiten, als man etwa nach Lektüre der „Abschaffel“-Trilogie gleich zum nächsten Genazino gegriffen hat, sind vorbei – ob unwiederbringlich, wird sich zeigen.
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