Tagträume
Es könnte fast auch ein Stoff für einen Groschenroman sein. Eine verheiratete betrunkene Frau lässt sich von einem Unbekannten nach Hause fahren, er sagt ihr, er hätte sie beinahe geküsst. Ein halbes Jahr später schreibt sie ihm einen Brief ohne Namen, ohne Absender, wann sie in seiner Stadt eintrifft, er holt sie ab und küsst sie. So der stark herunter gebrochene Plot der ersten Erzählung der Nobelpreisträgerin Alice Munro „Japan erreichen“ in ihrem letzten Buch „Liebes Leben“.
Ein Tagtraum, Groschenromane erzählen Tagträume. Doch für Groschenromane gibt es natürlich keinen Nobelpreis. Einen Groschenroman muss man nicht einmal bis zur Hälfte lesen, um alles zu wissen. Das ist nun bei der preisgekrönten Kanadierin anders. „Japan erreichen“ musste ich zweimal lesen, und noch ein drittes Mal sehr ausgeschlafen, um mitzubekommen, was mir auf dreißig Seiten erzählt wird.
Natürlich ist es das WIE, das zeigt, diese Geschichte ist kein Tagtraum. Peter bringt Greta, seine Frau und das gemeinsame Kind Katy zum Zug, Mutter und Tochter fahren nach Toronto, wo sie das Haus einer Freundin hüten sollen, Peter, der Ingenieur soll nach Lund, eine Arbeit beaufsichtigen. Da passt das ganz gut. Und während Mutter und Tochter dem zurückbleibenden Peter winken, erfahren wir, dass Peter als Baby mit der Mutter von der kommunistischen Tschechoslowakei nach Westeuropa geflohen ist und von dort nach Kanada. Und während Greta die gleichmäßige schöne Haut ihres Mannes aus dem Zugfenster betrachtet, setzt Munro eine erste Spritze an:
„Seine Ansichten glichen in manchem seinen Teint.“
Ein Film oder ein Buch waren für ihn entweder gut oder schlecht, es gab nichts zu diskutieren, was Greta, die Dichter (nicht Dichterin, wie sie betont) ist, gern getan hätte.
Nach Abfahrt des Zuges ein Szenenwechsel, der sich als Rückblende herausstellt. Greta hat zwei Gedichte in einer Zeitschrift veröffentlichen können und wird deshalb zu einer Verlagsparty eingeladen. In dem Gegenüber der sich völlig fehl am Platz fühlenden Greta mit den smalltalkenden „wichtigen“ Menschen, zeichnet Alice Munro ein wunderbares Bild solcher überflüssigen Veranstaltungen. „Es herrschte eine Aura von Anmaßung und Nervosität, ganz egal, wer man war.“ Greta macht das Naheliegende: sie greift vom Tablett des immer wieder vorbeikommenden Serviermädchens immer wieder nach einem Glas. Endlich versucht sie mitzureden und wird kalt abserviert. Sie setzt sich aus Mangel an Stühlen in ihrem „elegantesten schwarzen Kleid“ auf den Boden und streckt die Beine aus, nachdem sie die Schuhe mit den hohen Absätzen abgestreift hatte.
„Ein Mann beugte sich über sie.“ Das ist nicht sensationell, könnte so auch in einem Groschenroman stehen. Aber was denkt Greta dann: „Ihr taten seine eingesperrten Füße leid. Ihr tat jeder leid, der stehen musste.“ Das war er nun, der große Unbekannte, ein Schwiegersohn der Gastgeber, kein Dichter, ein Journalist, der sie im Auto nach Hause bringt und ihr sagt „Ich habe darüber nachgedacht, ob ich Sie küssen soll oder nicht, und beschlossen, es nicht zu tun.“
Sie kann ihn nicht vergessen. „Sie weinte fast vor Verlangen. Doch dieser Tagtraum verschwand, ging in Winterschlaf, wenn Peter nach Hause kam.“ Als sie die Bitte der Freundin aus Toronto erreichte, schrieb sie an die Zeitung, bei der der Journalist arbeitete: „Diesen Brief schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken… Und hoffen, er wird Japan erreichen.“ Dazu Tag und Uhrzeit ihrer Ankunft.
Nun baut Munro ein Stück ein, das wie eine Fleischwerdung des schlechten Gewissens Gretas verstanden werden kann oder wie eine Prophezeiung. Es geht um Katy, der Greta den Vater opfert mit der unsicheren Option, eine neue Vater-Beziehung für sie zu gewinnen. Alles bleibt offen, das ist Munros Pfund!
Sie lässt also Greg auftreten, der mit Katy gemeinsam Alice im Wunderland rezitiert. Als Katy schläft, trinken Greta und Greg eine Flasche Ouzo, fangen an sich zu küssen. Um das Kind nicht zu wecken oder zu erschrecken, gehen sie für alles Weitere in Gregs Abteil. Als Greta danach zu Katy zurückkehren will, ist diese weg. Panisch sucht Greta ihr Kind, das sie schließlich auch findet. Und nun lässt Munro Gretas Blick auf eine Tafel fallen, jeder Waggon hat einen Namen.
„Ihr Wagen trug den Namen Connauht. Das würde sie nie vergessen.“
Arthur Connaught war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Generalgouverneur von Kanada.
Mutter und Tochter winken Greg zu, als er ausgestiegen ist. Als der Journalist sie am Bahnhof küsst, fühlt Greta zunächst ein wirres Durcheinander, „dann ungemeine Beruhigung“. Katy reißt sich los, läuft aber nicht weg. „Sie stand einfach da und wartete drauf, was nun kam.“
Was Alice Munro in diesen dreißig Seiten anreißt, könnte einen Roman von 1000 Seiten ergeben. Sie macht aber nur auf. Der Leser ist gefordert. Es gibt unendlich viel zu entdecken. Warum Alice im Wunderland, warum der Generalgouverneur, den Greta nie vergessen wird und vieles, was jetzt nicht herausgehoben wurde. Warum Japan erreichen?
Diese eine Erzählung habe ich hier einer genaueren Betrachtung unterzogen, um zu zeigen, wie kunstvoll Munro konstruiert. Wie sie die kurze Zeitspanne in Gretas Leben herausgreift, in der es sich ändert. Wie zielsicher und planvoll Greta auf die neue Beziehung zusteuert und dabei doch der Zweifel an der Entscheidung im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert wird in der Greg-Katy-Episode. Bei dieser genauen Betrachtung treten in der sonst sicheren Übersetzung Heidi Zernings kleine Schönheitsfehler zutage. Ein Beispiel: Die Haut Peters, als Greta sie betrachtet, ist „gleichmäßig braun“. Und im nächsten Satz gleichen seine Ansichten seinem Teint. Hier fällt der deutsche Leser in eine Falle und vermutet kurz, Peter habe „braune“ Ansichten. Doch es geht nicht um Farbe und mögliche daraus resultierende Gesinnung, sondern um das Gleichmäßige, Makellose seines Denkens, bei dem es nichts zu diskutieren gibt.
Es gibt weitere wunderbare Erzählungen in dem Band. Amundsen, wo eine Lehrerin in einer scheinbar am Ende der Welt liegenden Kurklinik vom Arzt umworben und dann geheiratet werden soll. In dem Moment, wo der Arzt sich Minuten vor der Heirat umentscheidet, sieht die Lehrerin ein Schild von einem Geschäft für Schlittschuhe. Und immer wenn sie ein verschlungen S sieht, wie auf dem Schild, hört sie die Stimme des Arztes, der sagt, dass er sie jetzt statt zum Standesamt zum Bahnhof fahren wird. Das sind Filmszenarien, der Zoom auf das verschlungene S, ähnlich wie das Schild im Zug mit dem Namen des Generalgouverneurs. Momente, in denen das Leben kippt. In „Abschied von Meverley“ ist es ein unscheinbares, streng erzogenes Mädchen, das Kinokarten verkauft, die Filme aber nicht sehen darf. Und die sich vom Polizisten, der sie jeden Tag nach Hause bringt, die Filme erzählen lässt. Bis sie aus dem kleinen Ort verschwindet, um selbst zu erleben, was in den Filmen passiert. Und da die meisten Filme auch traurig sind …
Die vier Erzählungen, die Munro unter dem Titel „Finale“ am Schluss des Buches zusammenfasst, nennt sie selbst die persönlichsten. Es sind, das fällt mir nicht leicht, das zu sagen, die schwächsten. Es sind eher Skizzen, Fragmente. Die titelgebende Erzählung enthält schon ein spannendes Element. Eine alte, wohl verrückte Frau nähert sich dem Haus, in dem die Familie von Alice lebt. Sie selbst liegt im Kinderwagen vor dem Haus. Panisch holt die Mutter das Baby ins Haus, sieht, wie die Alte den Kinderwagen plündert und dann in die ebenerdigen Fenster des Hauses schaut. Diese Geschichte wurde Alice später erzählt. Viel, viel später findet Alice heraus, dass die Alte, deren Name auch genannt wird, hier früher selbst gewohnt hat. Diese Erzählung heißt: Liebes Leben. Ein wunderbarer Plot, dessen Ausführung wie gesagt skizzenhaft bleibt. Der Titel ist eine regelrechte Irreführung, denn er suggeriert auch Liebesleben, um das es hier gar nicht geht. Möglicherweise hat Alice Munro hier Zuviel Respekt vor ihrer eigenen Erinnerung, in die sie sich tastend hineinwagt. Die 82-Jährige Nobelpreisträgerin hat angekündigt, dies sei ihr definitiv letztes Buch. Da man ja weiß, was man von solchen Ankündigungen zu halten hat, bleibt zu hoffen, dass Alice Munro sowohl das Versprechen „Liebesleben“ einlöst, als auch aus der Geschichte mit der Alten und deren seltsamen Verbindung zu Alice noch eine großartige Erzählung zu machen.
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