Wo ist die Maske?
Man kann das heute gar nicht mehr glauben. Aber André Gide galt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als einer der einflussreichsten Autoren der westlichen Welt. Sein Ruhm und Einfluss standen dem Thomas Manns in nicht viel nach. Dessen Sohn Klaus Mann widmete Gide im amerikanischen Exil sogar eine Biographie („André Gide und die Krise des modernen Denkens“).
Mit Werken wie „Les Faux-Monnayeurs“ („Die Falschmünzer“), „L’Immoraliste“ („Der Immoralist“) oder „Les Caves du Vatican“ („Die Verliese des Vatikans“) hat Gide maßgeblich zum Kanon der literarischen Moderne beigetragen. Dasselbe gilt für die bahnbrechende Autobiographie seiner Jugendjahre, „Si le grain ne meurt“ („Stirb und werde“), in der er 1926 seine Homosexualität offenlegte. Das Buch sorgte für einen veritablen Skandal. Nicht zuletzt da Gide darin sein Scheitern einräumte, durch die Ehe mit seiner Cousine die eigene Homosexualität zu unterdrücken. Kein Wunder, dass Thomas Mann die Arbeiten des Kollegen mit Interesse (und Erstaunen) verfolgte. Wie Mann hinterließ auch Gide, der 1947 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, ausufernde Tagebuchaufzeichnungen, die er, anders als sein deutscher Counterpart, bereits zu Lebzeiten publizierte.
Das Streben nach persönlicher und literarischer Aufrichtigkeit – heute würde man vermutlich Authentizität dazu sagen – prägen Gides Werke. Dass der Autor dabei mitunter weit über die Grenzen der Konvention seiner Zeit hinausging, wird heute gerne übersehen. Was einen vor hundert Jahren an den Rande der Gesellschaft (oder wie im Falle Oscar Wildes sogar einen Schritt weiter) drängte, ist in einer Zeit des kalkulierten literarischen Tabubruchs und des bisweilen an Beliebigkeit grenzenden Spiels mit Identitäten nur mehr schwer nachvollziehbar.
Nicht viel anders verhält es sich mit Gides politischen Einlassungen. Dass er sich lange vor dem Ersten Weltkrieg gegen die Praxis des französischen Kolonialismus ausgesprochen hatte, wird heute gerne als eine Selbstverständlichkeit angesehen. Allerdings war es das zu diesem Zeitpunkt keineswegs. Vielmehr handelte es sich um eine radikale Infragestellung der französischen (und westlichen) Lebenswirklichkeiten. Auch hier sei noch einmal an Thomas Mann erinnert, der für die Überwindung seiner völkischen Großmachtallüren deutlich länger brauchte, wie man an den 1914 veröffentlichten „Gedanken im Krieg“ oder den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) unschwer erkennen kann.
Die genannten Punkte dürften ein Grund dafür sein, warum die Rezeption der Werke Gides – und damit auch seine Bekanntheit im Kanon der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts – in den vergangenen Jahrzehnten stark nachgelassen hat. Gide war in vielen (aber ausdrücklich nicht in allen!) moralischen und ästhetischen Fragen seiner Zeit weit voraus, auch wenn das aus heutiger Sicht nicht mehr ohne weiteres ersichtlich ist.
Umso erfreulicher ist es, dass der Berliner Matthes & Seitz Verlag eine kleine Novelle Gides ins Programm genommen hat, die damit erstmalig in deutscher Übersetzung vorliegt (also auch nicht in den bei DVA erschienenen „Gesammelten Werken“ enthalten ist). „Der Griesgram“ (original: „Le Grincheux“) ist vermutlich 1926 entstanden, wurde aber auch im französischen Original erst 1993 veröffentlicht. Die ausgezeichnete Übersetzung stammt von Tim Trzaskalik, der auch einen sehr informativen kleinen Essay beigesteuert hat. Nanne Meyer, Hannah-Höch-Preisträgerin 2014, hat das bibliophile Bändchen zudem mit 26 anregend-rätselhaften Zeichnungen ausgeschmückt.
Die (vorgebliche) Handlung ist schnell wiedergegeben. Ein anonymer Erzähler wartet an einem vereinbarten Treffpunkt auf einen Freund, der aber nie erscheint. Doch statt sich über die Missachtung zu ärgern, freut sich der Versetzte. Bestätigt es doch seine geringe Meinung über die Menschheit im Allgemeinen.
Es folgt ein innerer Monolog darüber, dass kluge Menschen nicht für das Glück geeignet seien, sondern dies ein Privileg der Dummen sei, was wiederum bei den Gebildeten ein Leiden am Glück der Dummen hervorrufe (vermutlich kannte Gide das gegen den Utilitarismus gerichtete Bonmot Nietzsches, demnach der Mensch nicht nach Glück strebe, sondern allenfalls der Engländer). Als Beispiel führt der Erzähler sein eigenes Familienleben an. Die alljährliche kollektive Dummheit unterm weihnachtlichen Tannenbaum verlässt er, um sich weinend in sein Zimmer zurückzuziehen. Und das Elend der Welt – exemplarisch dargelegt am eigenen Hauspersonal – lässt ihn nachts nicht schlafen, während sich die eigene Ehefrau um nichts schert und dumm-schnarchend neben ihm liegt.
Soweit, so gut: Selbstmitleid und das Gefühl geistig-moralischer Überlegenheit gegenüber den Mitmenschen können bekanntlich, quasi ex negativo, wichtige Triebfedern der eigenen Glücksaggregation sein. Damit könnte man es auf sich beruhen lassen und das Bändchen zur Seite legen. Aber Gide treibt, das Nachwort von Tim Trzaskalik liefert hier einen wichtigen Schlüssel, sein literarisches Vexierspiel ein gutes Stück weiter.
Erfährt man doch ganz am Ende der Erzählung, dass der Freund die Zusammenkunft mit dem Erzähler nur deshalb verpasst hat, da er exakt zum Zeitpunkt des geplanten Treffens bei der Explosion seines neuen Heizkessels ums Leben gekommen war. Mit diesem Wissen lohnt es sich, die vermeintlich so leicht dahinerzählte Geschichte noch einmal genauer Revue passieren zu lassen.
Und tatsächlich wird noch eine andere Lesart als die des alternden Misanthropen denkbar. Nämlich die eines geschickt eingefädelten Mordkomplotts, eines „Verbrechens ohne Motiv“, wie man es bereits aus Gides „Die Verliese des Vatikans“ kennt.
Was, wenn der Erzähler seinen Freund durch einen manipulierten Heizkessel gezielt aus dem Leben befördert hat? Die vorgebliche Verabredung hätte dann einzig das Ziel verfolgt, dem Täter ein perfektes Alibi zu liefern. Ein Mord um des Mordes willen, einzig mit der Intention, sich selbst zu beweisen, dass man über das Schicksal eines anderen Menschen bestimmen kann. Die Ankündigung, die Witwe fortan finanziell zu unterstützen, beim ersten Lesen noch als ein Akt der Barmherzigkeit und moralischen Integrität ausgelegt, verwandelt sich so in blanken Zynismus.
Am Ende der Lektüre dieser großartigen kleinen Erzählung bleiben zwei Dinge:
Erstens: Die Unsicherheit, wer dieser „Griesgram“ tatsächlich ist. Ein den Menschen überdrüssiger, im Grunde aber harmloser Miesepeter, wie es der Titel andeutet? Oder doch ein Menschenfeind und Mörder, der sein Handeln akribisch plant und kaltblütig exekutiert? Eine eindeutige Antwort darauf bleibt Gide schuldig.
Und zweitens: Der dringende Wunsch, sich auch die anderen Bücher des großartigen Autors André Gides mal wieder vorzunehmen.
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