Die Schrecken der Kleinstadt
Ein hermeneutisches Aha-Erlebnis gleich auf der ersten Textseite: Das Buch heisst "Der Ort", und der erste Absatz besteht aus folgendem Satz:
"Der Ort, die Strasse, das Haus, das Zimmer, neulich sagte ich mir, du nimmst jetzt alles, deine Heimat, die ganze Wetterau, deine Familie, deine Geschichte zwischen den Grabsteinen und Steinbrüchen, setzt dich ins Zimmer deines Onkels und machst daraus dein letztes Werk, ein Werk, das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist, und dieses Werk wirst du Ortsumgehung nennen, benannt nach der Ortsumgehungsstraße, mit der sie deine Heimatstadt jetzt umgehen und auf der immer noch nicht gefahren wird, obgleich sie schon drei Jahre daran bauen und die Genehmigung, ein schönes deutsches Wort, sich über vierzig Jahre hingezogen und eigentlich mein ganzes Leben begleitet hat."
Was lernen wir hieraus? - Erstens: Die Ebenen zwischen Text und Kontext, Ich-Erzähler und realem Autor sind von Anfang an verwischt, was auch bedeutet, dass es uns Lesern abverlangt wird, den Kontext dieses Satzes selbst zu recherchieren. Die Recherche ergibt: Diese vier Substantive am Anfang dieses langen Satzes am Anfang dieses kurzen Romans - "Ort", "Strasse", "Haus" und "Zimmer" - sie stellen nicht (nur) eine gleichzeitig lakonische und surreale Einführung ins Thema des Buches dar, sondern verweisen zugleich auf das vorliegende und die letzten drei Bücher Andreas Maiers (die eben "Der Ort", "Die Strasse" usw. heissen). Ich habe diese anderen drei Romane nicht gelesen, aber wenn ich davon ausgehen darf, dass der Einleitungsabsatz mir in dieser Hinsicht reinen Wein einschenkt, dann handelt es sich bei "der Ort" um den vierten Band eines längeren Projekts, das die heimatliche Kleinstadt des Verfassers bzw. Ich-Erzählers zum Gegenstand hat - eines Projekts, das eben "Ortsumgehung" heisst.
Zweitens: Der Einleitungsabsatz stellt sich gegen den Romantitel. Jener verheisst uns, es solle in der kommenden Lektüre um "den Ort" gehen, während dieser uns ein genau entgegengesetztes Generalvorhaben verkündet - eben die Umfahrung des Ortes. Man kann das Freud’sche lesen: Im Bemühen, den Ort zu verdrängen / zu umfahren, sagt man doch stets mehr über diesen als über sonst etwas aus. Man kann den Sachverhalt auch andersrum wenden, ins Monomythische: Um den "Ort" - z.B. mittels einer "Umfahrung" - exorzieren zu können, einem mythologischen Monster gleich, muss man ihn sich erst genauestens zur Kenntnis bringen - muss sich ihm gleich machen.
Drittens: Der Ich-Erzähler in seiner Eigenschaft als Verfasser eines Texts-im-Text, der sich mit dem realen Text zufällig zu 100% deckt, hat Thomas Bernhard gelesen und würde auch gern so klingen wie dieser. Tut er aber nicht. Wir verbuchen das als absichtsvolle Komposition und gehen versuchs- und freundlichkeitshalber nicht davon aus, dass Andreas Maier, der real existierende Autor, solche Sätze wie den oben zitierten "ernst meint". Obwohl er sich, gleich im nächsten Satz nach dem zitierten ersten, erneut - und noch viel direkter - am Bernhardschen Vorbild orientiert:
Als ich fünfzehn war, lief ich mit der Tochter des Besitzers der Bindernagelschen Buchhandlung auf der Kaiserstraße über das Feld von Friedberg nach Ockstadt und zur Hollarkapelle, und sie, die Tochter des Buchhändlers, sagte, (...)
Was wird das hier?, fragen wir uns - eine Parodie? - Und halten über die nächsten paar Seiten hin Ausschau nach Kalk- oder Sägewerken im Weichbild des geschilderten Ortes... Es ist aber natürlich keine Parodie. Alles hat den Anschein, ganz ohne Hintersinn so und nicht anders gemeint zu sein. Dabei wären in den Stoffen dieser Prosa alle Voraussetzungen gegeben, um das Verwenden von Pasticchen zu rechtfertigen - geht es doch oft gerade um Arten des Verschwimmens literarischer und "wirklicher" Wirklichkeit im Alltag eines lesenden Jugendlichen... Aber was sind Pasticcen ohne Augenzwinkern? Schlechte Kopien eines Originals.
Inhaltlich liegt mit "Der Ort" jedenfalls eine Folge von Szenen vor, die das Heranwachsendendasein des Erzählers schildern, ohne besondere Pointe, ohne später im Buch noch einen erkennbaren Rückgriff auf das "Jetzt" des allerersten Absatzes, alles von ausgesucht gähnender Langeweile. Wenn dieses Buch tatsächlich die angemessene Schilderung des Ortes und seine biographischen Bedeutung für den Ich-Erzähler darstellt, verstehe ich gut, warum er sich "bis er tot ist" an einer Umfahrung abarbeiten zu müssen glaubt.
Der allzu ernste Tonfall, der Brustton des bedeutungsschwangeren Psychologisierens, dazu der ungeordnete Aufbau - alles das überschattet selbst die "lustigeren", die ansonsten interessanten Szenen. Beispielsweise jenen längeren Abschnitt, in dem der Freundeskreis des Ich-Erzählers aufs sympathischste den Auftritt eines hohen CDU-Funktionärs beim Zeltfest stört. Statt mich hier mit den jugendlichen Pseudowiderständlern darüber zu freuen, dass sie die alten Konservativen ordentlich provoziert haben, muss ich mich die ganze Zeit fragen, was denn nun mit dieser einen Figur geschehen ist, deren Abwesenheit so oft erwähnt wird. Die Szene scheint geradezu drauf hingeschrieben, dass am Ende rauskommen soll, sie wäre inzwischen in einen Unfall verwickelt oder zusammengeschlagen worden, gleich würden wir Leser den Grund eines Traumas unseres Icherzählers zu Gesicht bekommen, eine missglückte Integration - so in der Art von "Während ich diese tolle Sache hier tat, geschah meinem wichtigsten Du jene andere Schrecklichkeit, und seitdem habe ich folgenden Schaden...". Das bleibt dann aus - und nicht einmal etwa in einer Weise, die uns ermöglichen würde, die gespannte Lesehaltung, die wir eben noch erfahren haben, irgendwie zu reflektieren.
Ein anderes Beispiel für eine Szene, die unüberhörbar unter dem Ballast von Maiers, des Icherzählers, Geraune im Stil der "ernsten" Literatur ächzt, ist die Schilderung dieser einen Party, bei der er der eben erwähnten Figur, einer Altersgenossin, erstmals näher kommt. Den einleuchtenden Gedanken, dass sich Parties, die man in seiner Jugendzeit besucht, im weiteren Leben in fixe Bestandteile der "inneren Landschaft" verwandeln, und dass in diesem Zusammenhang wohl auch die Statusspielchen der Heranwachsenden ihre Rolle spielen, walzt Maier dabei dermaßen aus, dass für das Geschehen selber - boy meets girl - kein Platz mehr bleibt.
Und insbesondere diese Szene ist es, die mir als unfreiwillige Selbstparodie im Kopf bleiben wird: Wie die Fernsehserie "Hannibal" ist sie geprägt davon, dass alltägliche Geschehnisse durch unangemessen "machtvolle" Stilmittel geschildert werden (bei "Hannibal": kunstfilmhafte Überlappungen, surreale Details und Großaufnahmen; in "Der Ort": psychologisierende Fluchten inneren Monologs, kunstreich an Eindrucksfragmenten aufgezogen). Im Fall von "Hannibal" verweist dieser permanente Bruch der Abbild- und Erzählkonvention jedoch auf einen bestimmten, wichtiger: auf einen bestimmbaren Sachverhalt innerhalb der Handlung, und erweitert so unser Verständnis für diesen Sachverhalt. Im Fall des vorliegenden Buchs dagegen verweist die Unverhältnismäßigkeit auf nichts, ausser auf sich selbst, also auf den Gefühlszustand des Icherzählers. Das ist entweder zu wenig, oder es ist urkomisch. Für letzteres aber fehlen die Pointen.
Kann sein, dass ich dem Roman mit dieser Rezension Unrecht tue. Kann sein, jedes Element wäre an seinem Platz, jedes Sprachdetail in "Der Ort" würde mir als so und nicht anders notwendig erscheinen, wenn ich den Kontext - die anderen drei Bände des "Ortsumfahrungs"-Projekts - kennen würde. Allein: Auf der Umschlagseite steht nicht "Der Ort. Vierter Teil eines Romans", sondern "Der Ort. Roman". Danach muss sich der Leser richten können.
PS: Mir mag mit Recht vorgehalten werden, ich hätte in anderen Beiträgen gerade auch auf Fixpoetry Bücher gelobt, die objektiv nicht halb so formbewusst, so genau, so verwurzelt in den sinnvolleren Traditionen des Kanons sind wie "Der Ort". Das stimmt. Doch Maier zeigt eben, gerade wenn er den "hohen Ton" des spätbürgerlichen Romans aufs i-Tüpfelchen trifft, dass er mehr könnte als dieses. Stoff, Aufmachung, verlegerischer Kontext und offenkundige Fähigkeiten des Autors ließen bei diesem Buch viel mehr erwarten. Ein stilistisch vielleicht löchriges, von Idiosynkrasien und Unsicherheit geprägtes Buch, das sich am äusssersten Rand der Fähigkeiten seines Verfassers an einem Stoff abarbeitet, der diesem spürbar nicht egal ist, ist mir prima facie sympathischer und erhält entschieden mehr Vertrauensvorschuß als ein Buch, das in gelangeweilt-souveräner Weise von der Langeweile des Subjekts und ihren Ursachen spricht.
Fixpoetry 2015
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