Begegnungen
Die Kartäuserin nimmt Platz
gibt und nimmt mitten
im Strahl der Aufmerksamkeit
und bedeckt
das Unlesbare
mit dem Stahlgrau
ihres Marienmantels
Es ist für mich noch nicht ausgemacht, ob man von einer Renaissance religiöser Dichtung sprechen kann, aber zumindest scheint es mir so. Ich denke dabei an den großartigen Gedichtband von Karla Reimert oder an Arbeiten von Johannes CS Frank, aber auch an Gedichte Norbert Hummelts. Womit wir gleich Vertreter verschiedenster Konfessionen erwähnt haben, und das sie Verbindende: nämlich Toleranz den jeweils anderen gegenüber. Religiosität als Tasten nach Gott und zugleich als eine Art Selbstvergewisserung. Und auch mir, der ich keiner Konfession angehöre, ist dieses Vorgehen vertraut.
Eine These besagt, dass Kunst sich ohnehin aus dem Religiösen, dem Gottesdienst heraus ergab. Ich neige aber eher zu der Annahme, dass es seit je eine Parallelität zwischen Religiösem und Säkularen gibt, dass Kunst sich dem Alltäglichen einerseits, aber auch dem Universellen, Überzeitlichem verpflichtet fühlt – Gott und Erbse sozusagen. Vor mir liegt also Anja Bayers Gedichtband "ungewusstes fell", und fordert mir einige Reflektionen in die eine wie die andere Richtung ab. Dafür bin ich dem Band dankbar, und auch dafür, dass die Texte wissen, auf welch schmalem Grad sie sich bewegen. Wie leicht sie stürzen könnten ins Kitschige. Dieses Wissen macht sie einerseits unsicher, aber es bewahrt sie auch vor dem Gang ins Nichts. Ich würde von einer kargen Schönheit der Grenze sprechen wollen.
der Raum, das Bild
ich suche dich
bleibt offen stehn
lass dein Auge
fallen
Dieses Buch dient einer Struktur, und das kann es nur in seiner radikalen Individualität. Das ist es wohl, was die gesamte "Reihe staben" des in Frankfurt ansässigen Gutleut Verlags ausmacht.
Vielleicht beginnen wir bei der Beschreibung dieses Buches – es geht ums Haptische, das in-der-Hand-Liegen, das Abnehmen des Umschlags, der sich als Plakat erweist, wenn man ihn entfaltet, und auf dem sich eine Grafik befindet. Filigran scharen sich dort winzige kreisförmige Strukturen und bilden in ihrer Häufung die nächste je größere Formation – auch Kreisförmig.
Entzogenes
Ohneglauben
du wohnst mir inne
fremdverjährt…
Das Große erweist sich im Kleinen und umgekehrt, fraktal, chaotische Ordnung, ordentliches Chaos. Wie Luken, Eingänge, auf der Struktur rückseitig des Plakates, das der Umschlag ist, Textmomente: da wundert es auch nicht, wenn als Motto des Bandes eine Sequenz des kirchlich umstrittenen Mystikers Meister Eckart dient. Dieser Meister Eckart hatte sich dem Urteil des Vatikans über seine Frömmigkeit 1328 durch den Tod entzogen. Ungelöst blieb sein Verhältnis zu Gott, aber wahrscheinlich ist es ohnehin vermessen, wenn eine Institution sich anmaßt, dieses Verhältnis letztgültig zu bestimmen. Ungelöst bleibt unser Verhältnis außerhalb des Suchens.
Im Buch Bayers ist dieses Verhältnis also ebenso unbestimmt, was es konkret macht. Wir wissen nicht, wer in einigen Texten gemeint ist, wenn sie ein Du ansprechen, aber hin und wieder scheint es mir naheliegend, dass es genau jener Unbestimmbare ist, der von dem einen oder anderen als Gott bezeichnet wird. Etwas jedenfalls, das über das Fassbare hinausgeht, eine Struktur, die sich noch um die Größte legt und die jene spiegelt, die in die kleinste noch hineinpasst.
In meinen Schößen
legst du
ein großes Gesicht zurück
Aber natürlich versammelt der Band nicht nur Gebete, die unmittelbar an den Höchsten sich richten. Der zweite Zyklus bricht das herunter auf eine unmittelbare Liebesebene. Nicht also die mönchische oder nonnenhafte Liebe ist hier Gegenstand, sonder die, die dem Nächsten, dem Allernächsten zuteil wird, und dieser Zyklus heißt bezeichnenderweise: "An Stelle der Rippe". Hier erweist der Band sich als ganz zeitgemäß. Nicht Eva entspringt der Rippe Adams, sondern die Liebenden sind je die Rippe des Anderen.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben