Die Überflutung des Landes Vergissmeinnicht
Auch wenn es vorher keine Heimat war – muss man einen Ort unfreiwillig verlassen, so wird er zur Heimat, so spürt man plötzlich die Wurzeln schmerzhaft. Und ist es bisher eine lockere Gemeinschaft von Nachbarn, so schweißen die miteinander geteilten Entwurzlungsschmerzen zusammen. Da sind die Alten mit ihren Erinnerungen, die Paare, die eben volljährig gewordenen Zwillinge, das Kind. Sie müssen aus dem Ort an dem Fluss, denn er soll geflutet werden.
Annika Scheffel erzählt in ihrem Roman „Bevor alles verschwindet“, was in den Menschen und mit den Menschen passiert, wenn sie ihre Häuser verlassen müssen, zusehen müssen, wie sie abgerissen werden, überlegen müssen, ob sie ihre Toten „mitnehmen“. Sie beschreibt den Kreis der Ungläubigen, der den hartgesottenen Rest bildet und der nicht weichen will. Der von den „Verantwortlichen“ und den „Gelbhelmen“, die nun den Ort nach und nach in Besitz nehmen, vorsichtig behandelt wird, als wäre er Sprengstoff. Und diesen Sprengstoff packt Annika Scheffel mit Lust an. Sie schafft ein poetisches Figurenensemble, das entfernt an Dylan Thomas` „Unter dem Milchwald“ erinnert. Da das alte Mädchen Mona, das immer noch auf der Suche nach dem Prinzen ist. Sie wollte aus dem Ort fliehen „nach Sansibar, weil ihr der Name so gut gefiel“. Doch als ihre Mutter sie zurückrufen wollte, stürzte sich diese zu Tode. Seitdem kann sie nicht weg dort, seitdem hat sich die Mutter in Monas Bauch breitgemacht und sendet von dort Befehle. Es gibt den Bürgermeister Wacho, der manchmal „ein Problem mit dem Optimismus“ hat. Vor 20 Jahren ist seine Frau davon gegangen, seitdem ist er mit David, dem gemeinsamen Sohn, allein. Der ist inzwischen 27 und nickt nur, wenn der Vater sagt: deine Mutter kommt wieder. Für jedes Nicken bekommt er einen Schlag. Wacho sperrt seinen Sohn ein, damit er ja da ist, wenn die Mutter zurückkommt. Alle im Ort wissen das, was Wacho mit seinem Sohn macht. Mit jeder Figur, die Annika Scheffel auf die Bühne stellt, vervollständigt sich das skurrile Ensemble: der erfolglose Schauspieler Robert mit Frau Claudia, die als Ärztin die vom blauen Fuchs gebissenen Gelbhelme behandelt. Deren hellsichtige Tochter statt mit einer Puppe mit einem Totenschädel spricht. Da ist die Bilderbuchfamilie mit den Zwillingen, die natürlich unzertrennlich sind. Der Vater träumt von einem neuen Haus am See mit Swimmingpool. Doch da gibt es noch ein zu früh geborenes Geschwisterchen, von dem bisher keiner wusste, das plötzlich von seinem heimlichen Grab aus an der Mutter zieht, hierzubleiben.
Anhand der bevorstehenden Flutung müssen sich die restlichen Bewohner lösen, ihre Wurzeln aus dem Boden ziehen und da kracht es, in den Beziehungen, in den Menschen selbst. Das ist Annika Scheffels wunderbarer Ansatz: Die vertriebenen Bewohner müssen Schlusspunkte setzen, unter sinnlose Hoffnungen, unter Lebenslügen oder sie mitnehmen an den neuen Ort, wie die Toten, die umgebettet werden können, wenn die Angehörigen es wünschen. Das eine wie das andere ist schmerzhaft. Die Erzählerin findet überraschend schöne Bilder dafür. So sehen die Bewohner eines Tages rote Zeichen an ihren Häusern, auch an der alten Linde. Sie wissen nicht, was das bedeutet, nur, dass es nichts Gutes verheißt. Und sie schrubben und schrubben an der roten Farbe– vergebens.
In die wie ein Count Down ein halbes Jahr erzählenden Kapitel bis zur Flutung, mischt sich nach und nach ein anderer Gedanke, der Gedanke an die Chance, zu vergessen, abzuschließen, etwas Neues anfangen. Wie der Vater der Zwillinge, der geht, um das Haus für seine Familie vorzubereiten. Und seine Tochter Jula, die sich in einen der Gelbhelme verliebt. Jetzt bekommt er auch einen Namen: Anton. Sie will den Ort verlassen mit Anton, sie sprengt die enge Bindung zum Zwillingsbruder.
Bis dahin gelingt Annika Scheffel ein poetisches Untergangsszenario mit tiefem Blick in Nöte und Zwänge der Beteiligten und das Hadern mit einer neuen Chance. Im Dank verweist sie auf die zahlreichen verschwundenen Orte in der Lausitz. Es gelingt ihr nicht, wahrscheinlich hat sie es nicht beabsichtigt, den Blick zu weiten, auf das ständige Verändern der Strukturen der Orte, wie es schon seit Jahrhunderten geschieht, mit dem wir alle leben müssen, wenn Bäume und liebgewordene Gebäude Neuem, oft nicht so Schönem, weichen müssen. Der Roman ist auf den Untergang dieses einen Ortes gerichtet. Er wird mit gleich zwei bedeutungsschweren Zitaten, aus der Bibel Ninive und Jona und de la Barca „denn ein Traum ist alles Leben“, als Eingangsmotti schwer überfrachtet. Alle Leichtigkeit und Skurrilität, die den Leser zu Beginn begeistern kann, ermüdet im Weiteren durch Überdehnung der Motive. Wenn Bürgermeister Wacho über 400 Seiten seinen Sohn David misshandelt und nicht gehen lässt. Oder das Kind Marie mit seinem Schädel immer noch Erstaunen auslösen soll. Wenn Monas Vergissmeinnichtfeld nicht aufhört zu blühen und zu mahnen. Wenn der „Plan“ der Zwillinge gegen die Flutung immer wieder eine geheimnisvolle Rolle spielt. Und schließlich noch der „überzählige“ Zwilling bei seiner Ausführung draufgeht. Hier opfert die Autorin einen ihrer Helden und dann wird es auch noch rührselig. Wenn die Bilder zu überladen – der Fluss, der alles fluten soll heißt Traufe – die Versatzstücke zu geheimnisvoll, der blaue Fuchs, der die „Gelbhelme“ beißt, ein kopfloser Löwe aus Stein und eine Figur Milo völlig sprachlos und damit sinnlos erscheint, dann hat man schließlich genug von dem Geheimnisvollen, Magischen.
Man fragt sich, ob das Buch lektoriert wurde. Abgesehen von dem „Geheimnisüberfluss“ (der vielleicht auch Geschmackssache ist) gibt es eine Reihe textimmanenter Unlogik. Der erfolglose Schauspieler Robert hat zu Beginn eine Schauspielerausbildung, zum Schluss des Buches hat er nie eine Schauspielschule besucht. Die Zwillinge sind nur „eine Minute“ auseinander. Und zu Beginn wird das Flusswasser, in das die Kinder des Ortes getaucht werden, als Brackwasser bezeichnet. Solche „Unschärfen“ sind unnötig und bedauerlich, denn Annika Scheffel ist eine begabte Autorin mit großer Bildkraft.
Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben