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Kritik

Der Vater als Mutter

Hamburg

Kurz vor Ende des Romans des niederländische Autors Arnon Grünberg Muttermale, lässt sich der Protagonist Otto Kadoke fünf Leberflecken entfernen und diese Metapher fasst die zahlreichen Versuche zusammen, sich von seiner Mutter zu befreien. Denn Kadoke, Psychiater eines mobilen Krisendienstes zur Verhinderung von Selbstmorden, ist hauptsächlich damit beschäftigt, die Mutter zu versorgen und sie vom Sterben abzuhalten. Da er ihre bisherige Pflegerin aus Nepal durch einen sexuellen Übergriff vertrieben hat, muss er wieder in sein ehemaliges Kinderzimmer einziehen.

In einem Interview sagt Grünberg, er habe sich in dem Roman folgende Fragen gestellt:

Kann Empathie auch gefährlich sein? Ist Empathie nur etwas Gutes? Kann sie sich auch in eine destruktive Kraft verwandeln?

Psychiater Kadoke, der eigentlich durch seinen Beruf um die Fallstricke familiärer Beziehungen wissen müsste, hat zu seiner widerspenstigen und schon leicht verwirrten Mutter eine ausgesprochen symbiotische Beziehung, die weit über das Verhältnis Mutter Sohn hinausgeht.

In Mutters Schlafzimmer verführt Kadoke seine Geliebte mit Worten und Taten, mit dem Tag und somit auch dem Leben anzufangen. Ein paar Minuten lang massiert er ihre Schultern und ihre Kopfhaut. »Ich brauche dich«, sagt er, »hörst du mich? Ich brauche dich. « Und als er mit der Massage und den verbalen Beschwörungen fertig ist, führt er Mutter zu ihrem Stuhl am Schreibtisch und füttert sie mit Obst und den Medikamenten.

Sie beschimpft ihn als Schwächling, fordert ihn auf, Kampfsport zu treiben, weil er ein Muttersöhnchen sei und seit seiner Kindheit nicht für sich eintreten konnte. Er nimmt es hin, weil diese Vorwürfe für ihn ein Beweis ihrer Liebe sind. Denn seine Mutter hat als Jüdin, viele Lager überlebt und für sie kann ihr Sohn nur als wehrhafter Jude in dieser Welt bestehen.

Fast zeitgleich mit Muttermale ist das Buch von Grünbergs deutscher Mutter Hannelore Grünberg-Klein Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit erschienen. Darin beschreibt sie die Odyssee ihrer Flucht mit einem Schiff nach Kuba, das dort nicht anlegen durfte, und wie sie dann schließlich in mehrere Lager kam und als Einzige ihrer Familie überlebte. Arnon Grünberg schrieb dazu in einem Nachwort:

Meine Mutter und ihr Buch sind das Zentrum, alles andere ist Beiwerk. Mein Œuvre ist eine Fußnote zu diesem Buch und zum Leben meiner Mutter -womit ich nicht gesagt haben will, mein Werk sei ausschließlich vor dem Hintergrund des Kriegs zu erklären – dieser Interpretation werde ich mich stets widersetzen – höchstens, dass es Löcher in der Erinnerung gibt, in der Geschichte meiner Mutter und meines Vaters, Löcher, die gefüllt werden müssen. Gerade auch mit Literatur.

Man kann also davon ausgehen, dass das Schicksal seiner Mutter auch den Roman Muttermale mit beeinflusst hat.

Wir alle sind die Fortsetzung von Traumata anderer Leute, Sie, ich - wir sollten aufhören zu glauben, dass es unsere eigenen sind, die uns in unerwarteten Momenten heimsuchen wie Geister, wie Stimmern und Dämonen,

erklärt Kadoke einer Frau, die er als Pflegerin engagieren möchte. Aber diese lehnt ab, weil – und hier verfremdet Grünberg die Mutterfigur und schafft auch für den Leser eine gewisse Distanz – die Mutter eigentlich der Vater ist. Dieser verfiel nämlich nach ihrem Tod in schwere Depressionen und nur die Transformation in seine eigene Frau hat ihn gerettet.

»Meine Mutter ist gestorben«, sagt er. »Mein Vater hat ihre Rolle übernommen, wie alles von ihr, also auch ihre Traumata. Er setzt ihre Traumata fort und in gewisser Weise hat er so seine eigenen vergessen und besiegt.

Aber auch der Sohn denkt

Er hätte vergast werden müssen, sein Leben ist eine schmähliche Niederlage, und keine Leistung wird diese Niederlage je irgendwie übertünchen oder beschönigen können.
Zum Vergastwerden ist Kadoke zu spät geboren, das ist seine Niederlage. Seiner Meinung nach dürfte er nicht leben, und dass er doch da ist, liegt daran, dass er es seinen Eltern nicht antun kann, nicht da zu sein. Keine Liebe kann dieses Gefühl auslöschen, darum darf man auch niemanden damit belästigen.

Die Emotionen, nach denen Kadoke sich sehnt, kennt er nur aus Büchern und Filmen. Er ist geschieden, weil er keine Nähe erträgt. Und als wäre das nicht schon alles kompliziert genug, bewirkt er, dass gegen alle Regeln des Krisendienstes seine Patientin Michette als Pflegerin zu ihm und seiner Mutter zieht. Auch sie wollte sich umbringen und verletzt sich immer noch durch Ritzen. Während er sich einredet, das Zusammenwohnen sei für sie eine alternative Therapie, sieht sie ihrerseits es als ihre Aufgabe an, ihm beizubringen, was Liebe ist. So kann man die Frage auf dem Klappentext wer hier Patient und wer Therapeut sei, bis zum Schluss nicht beantworten.

Dass dies in dem Roman einer ungewöhnlichen Dreiecksbeziehung mit vielen Komplikationen so gewollt ist, versteht sich von selbst. Aber durch die oft grotesken Umstände und Situationen (beispielsweise schenkt Kadoke Michette seine entfernten Muttermale) nimmt Grünberg dem Roman trotz der nicht einfachen Fragen die Schwere. Wie Grünberg die oben zitierte Frage nach den Folgen zu großer Empathie beantwortet, bleibt offen, weil Kadokes Fürsorge für die Mutter und seine Selbstmordpatienten auch etwas mit gegenseitiger Abhängigkeit zu tun hat. Immerhin lautet der vorletzte, fast positive Satz des Romans: Dieses Nicht-tot-Sein muss aufhören. Und kaum hat er Mutter und Michette außer Haus gebracht, überkommt ihn eine unerhörte, fast beängstigte Sehnsucht, die nicht von Lebenslust zu unterscheiden ist. Vielleicht ist das doch so etwas wie eine Antwort.

Arnon Grünberg
Muttermale
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten und Andrea Kluitmann
Kiepenheuer & Witsch
2016 · 448 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-462-04925-1

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