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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Zu Jeßings Einführung in Mißstände und Arbeitstechniken

Hamburg

Wer heute ein literaturwissenschaftliches Studium beginnt, hat es schwer: Nicht nur sinkt der Wert dieser Ausbildung in einer Gesellschaft, die sich besser gesagt der Bedeutsamkeit nicht bewußt ist, welche der Philologie eignen könnte und müßte, einer emanzipatorischen Funktion etwa: Wer Grammatik nicht beherrscht, wird zum von ihr und denen, die in Privatschulen diese herrschaftlichen Techniken lernen, Beherrschten, manches Problem der (post-)modernen Demokratie wäre anders formuliert dadurch zu lösen, daß man Deutschlehrer ausbildete, die die Grammatik verstehen und vermitteln, statt eher ankonditionierte denn eigentlich unterrichtete Kompetenzen abzufragen... Doch damit nicht genug, sind die Studien schon von dieser Ideologie infiziert, Wohlfühl- und Schutzräume, wo man auf höherem Niveau als in der Neuen Mittelschule lernt, daß man glücklich sein könne und müsse, um den Preis, die Bibliothek zum Schrebergarten umzubauen, mit trigger warnings statt Gartenzwergen. Und alles wird in ECTS-Punkten abgegolten, die man dafür bekommt, möglichst viel in dem Bereich zu verbleiben, der geprüft wird. Angeblich setzt bei den besten Studenten beim Wort Pisa Speichelfluß ein.

Benedikt Jeßing hat nun seine Einführung in die Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums überarbeitet – ein Buch, das das ganze Elend abbildet, mal so, mal so. Mal so, daß er mit Goethe einmahnt, ein Studium solle gestatten, daß man „Herr bleibe” oder werde, man solle also nicht nur darauf achten, „Regelstudien einzuhalten”, dem Zwang, der keiner ist, sich entziehen. Mal aber auch so, daß er betont, man müsse schon den Text lesen, der interpretiert wird, statt auf das gesicherte Terrain der Sekundärliteratur stattdessen zu verabschieden, also den Text gegen die getriggerte Kompetenz zu tauschen, was als Mahnung ahnen läßt, wie schlimm es auf den Universitäten heute bestellt ist.

Und schließlich auch immer wieder mal so, daß Jeßing den Ideologien selbst erliegt, etwa betont, daß „Lust” wesentlich sei, wenn es um Philologie geht, und ist das schon fragwürdig, so noch mehr, ob es Lust am Text sein muß, nicht zum Beispiel daran, Kritik zu formulieren, sich zu einem Text distant zu verhalten, aber nein: „Man sollte [...] niemals einen Text bearbeiten, den man nicht mag.” – Ja, so wird das Studium zur Kleingartenkunde, man freut sich daran, daß es nur schöne Texte gibt, was auch erleichtert, dann doch zufrieden nur ECTS-Punkte zu sammeln. – So bietet Jeßing nebeneinander Besinnungen auf das, was Philologie sei, daß man im Studium etwa dem „Prozess der Herstellung eines Wissens” beiwohnen und dazu beitragen könne, also Kollege sein, daß Power-Point-Folien keine Vorlesung sind; aber er formuliert eben auch Passagen, die das Studium in seinem Anspruch verkennen lassen.

Einiges ist auch sachlich fragwürdig, daß etwa die Wikipedia im Gegensatz zu Brockhaus und Meyer „nicht zitierfähig” sei, verkennt, wie fehlerhaft diese – und alle – Enzyklopädien sind, tatsächlich weisen Untersuchungen hierzu übrigens in die Richtung, daß von Ausnahmen und insbesondere edit wars abgesehen die Wikipedia sogar zuverlässiger als die altehrwürdigen Nachschlagewerke sein könnte. Ebenso ist die Ermutigung, Methoden erst einmal beiseite zu lassen, als Plädoyer für den ganzen Menschen etwas heikel, die „methodische Eindimensionalität” beginnt eben schon, wenn man liest – statt am Buch zu riechen oder die Fallgesetze am Objekt zu überprüfen... Ob Latinismen grundsätzlich „pseudowissenschaftlich” sind, ist auch fraglich – sie sind jedenfalls nicht unwissenschaftlicher als Jeßings diesbezügliche Ressentiments, der es klar und irgendwie auch eigentlicher wünscht...

Und in Bezug auf die Brauchbarkeit des Buchs: Ob der Verfasser wirklich meint, man müsse genau so und nicht anders zitieren und bibliographieren, egal, wo man seine Arbeit schreibt und vor allem publiziert..? Wie sinnvoll detaillierte Einlassungen zum Einrichten von Ordnern am PC (wer diese Handreichung benötigt, sollte womöglich doch nicht studieren) und zum Gebrauch der BdSL-Datenbank sind, kann man auch wenigstens diskutieren.

Alles in allem ist dieses Buch nicht schlecht, in vielem aber merklich Folge eines Bildungssystems, worin also kompetente Abiturienten von noch Kompetenteren dressiert werden, schließlich mit einer Bachelor- und Masterarbeit (gerne ohne defensio) zu belegen, daß sie, tja: Spiegelneuronen haben. Und diese Diskriminierung von Schildkröten kriegen wir auch noch raus, wenn der Abschluß keinerlei Diskriminierung mehr impliziert, wenn der Student also mit dem von den Helikoptereltern geschmierten Brot und diesem Buch in der Bibliothek neben einer Schildkröte sitzt, von Literatur nicht stimuliert, sondern sediert.

Benedikt Jeßing
Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums
2., erw. und aktual. Auflage
Reclam
2017 · 168 Seiten · 12,95 Euro

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