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Kritik

Landschaft mit Stille und Schießstand

Hamburg

Israel war dieses Jahr mit zahlreichen Autoren Gastland bei der Leipziger Buchmesse und daher für den Verbrecher Verlag eine schöne Gelegenheit seinen deutsch-israelischen Autor Chaim Noll nicht nur mit Schmuggel über die Zeitgrenze, einem Erinnerungsbuch über Nolls Leben in der DDR, sondern gleichzeitig mit dem Gedichtband Kolibri und Kampfflugzeug zu präsentieren.

Chaim Noll wurde 1954 als Hans Noll in Ost-Berlin geboren. Sein Vater war der linientreue Schriftsteller Dieter Noll, dessen Bücher in der DDR als Schullektüre gelesen wurden. Chaim Noll selbst verweigerte in den Achtziger Jahren den Kriegsdienst, wodurch er unweigerlich mit dem Regime in Konflikt geriet. Er stellte einen Ausreiseantrag und sein Weg führte ihn dann von West-Berlin über Italien und, entsprechend seiner jüdischen Wurzeln, schließlich nach Israel. Chaim Nolls Großmutter väterlicherseits war nämlich Jüdin, eine Tatsache, die er zwar schon seit seiner Kindheit wusste, über die in der Familie aber wegen der antisemitischen Stimmung in der DDR nicht gesprochen wurde.

Wer nach der Lektüre von Schmuggel über die Zeitgrenze wissen wolle, wie es im Leben des Autors weitergegangen sei, solle Kolibri und Kampfflugzeug lesen, schrieb ein Rezensent und in der Tat erzählen die Gedichte von dem Leben Chaim Nolls zwischen 1989 und 2014. Da jedes Gedicht mit einer Jahreszahl und Ortsangabe versehen ist, kann man als Leser gar nicht anders, als die Verse in die Biografie des Autors einzuordnen, auch wenn die Gedichte unabhängig von Ort und Zeit ein Eigenleben haben.
Die 1989 in West-Berlin entstandenen Gedichte haben einen melancholischen Grundton. Da heißt es in dem Gedicht Fremder Stein

Alles in Starre gefallen meine Gedanken
suchen das Licht zu fassen auf fremden Stein
keine Stimme zu hören kein Vogelgeschrei

Im ersten Gedicht aus Italien beschreibt das lyrische Ich die Ankunft 1989 auf dem Bahnhof Pescara

Augenblicke des Glücks: wie immer die unverhofften
Auf dem Bahnhof Pescara im Hall des Gewölbes
Was zu sehen ist rasch zu Papier zu bringen

Doch Chaim Noll belässt es nicht bei der Beschreibung von Äußerlichkeiten wie dem sonnigen Vorplatz, dem Schatten, der Meeresbrise, sondern kommt in den nächsten Strophen beim Betrachten von Gravuren in alten Marmorböden zu der Erkenntnis:

Angerührt von der Ahnung, dass nichts auch nicht wir
Vergehen kann ohne Spuren im Stein

Diese Zeilen sind bezeichnend für den Aufbau von Nolls Lyrik. Auch wenn die Gedichte scheinbar heiter beginnen, sprechen die folgenden Strophen oft existentielle Fragen an und Noll gelingt es, über die erste Ebene eine zweite tiefergehende zu legen.

Bezeichnend dafür ist das titelgebende Gedicht Konzert für Kolibri und Kampflugzeug (I), in dem sich Eulen und Krähen um die besten Nistplätze streiten. Spiegelt Chaim Noll in diesem 1999 geschriebenen Gedicht den Streit der Palästinenser und Israelis nur in den Vögeln, wobei das Wort Kampfflugzeug bereits die Richtung vorgibt, so wird er neun Jahre später in Konzert für Kolibri und Kampfflugzeug (II) deutlicher. Das Gedicht gibt als Entstehungsort Ramat Hanegev, nahe Gaza an und hier, an der Grenze zum Gazastreifen, werden aus den Vögeln Kampfflugzeuge.

Aus dem blankesten Blau
eines Sommertages verdunkeln
in Sekunden sich Himmel und Luft
in weißes Erschrecken

Nolls Gedichte sind in gleichmäßig gebauten Strophen ohne Satzzeichen geschrieben. Die auf den ersten Blick schnörkellose Sprache verfügt über sehr schöne Bilder, die gekonnt Stimmungen evoziert, wie in dem Gedicht Mittagsruhe:

Mittags fallen die Schatten
der großen Steine
in weiche Betten

aus stillem Sand
Dann wechselt der Wind
Ost nach Süd

Chaim Noll lebt heute in der Wüste Negev, unterrichtet an der Universität von Beer Sheva. Die Rückbesinnung auf seine jüdischen Wurzeln schlägt sich auch in den Gedichten über biblische Gestalten nieder. Gestalten, die im jüdischen Alltag verwurzelt sind. So schreibt er über Esther:

Esther warum möchte jedes Mädchen
sein wie du und liebt dich jeder Junge
noch nach vielen Hundert Jahren
in der Purim Nacht

Noll, inzwischen israelischer Staatsbürger, identifiziert sich in seiner Lyrik mit der neuen Heimat und vor allem mit der langen Geschichte seiner Bewohner. In den mehreren Gedichten spricht er von wir, das lyrische Ich ist Teil der Vorfahren sowie dem Israel der Gegenwart.

Wir verehren den Marmor nicht
nicht wie die anderen
erkennen uns erst
im geschriebenen Wort

Wir haben gesprochen
im endlosen Wandern
in jeder Zunge
an jedem Ort

Chaim Nolls Leben in der Wüste verändert seinen Ton. Vor allem die Wüste wird sinnlich und farbenfroh erlebt. In zahlreichen Gedichten taucht das Wort Sand auf. Der Sand ist gelb oder hell, es gibt Sandstürme und Hoffnungen, die auf Sand gebaut sind. Und so endet das Gedicht Mittagsruhe, das so friedlich begann, aber 2012 auf dem Hebron-Hügel entstanden ist:

Blass werden
die Narben meiner Hand
Und die Waffen

verborgen in Höhlen
verteilen sich
still übers Land

Bei allem Lob über die Schönheit und Stille der Wüste, nie wird das Leben dort als Idyll beschrieben. Zwischen Abrahams Sterne / am abendfüllenden Himmel mischt sich eine Landschaft mit Schießstand.

Chaim Noll
Kolibri und Kampfflugzeug
Mit 22 Kaltnadelradierungen von Sabine Kahane und einem Nachwort von Jakob Hessing
Verbrecher Verlag
184 Seiten · 21,00 Euro
ISBN:
9783957320841

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