Und ewig grüßt die Kaderakte
Über das Cover des 500-Seitenromans wachsen blasse, überdehnte Birken. Mit ihnen beginnt der Roman. Der Ich-Erzähler sieht in dem Wäldchen einen Mann in weißer Uniform, wie er mit herrischer Geste junge Birken köpft. Die traumhafte weiße Gestalt ist wohl sein Vater, den er nie kennengelernt hat, das Wäldchen ist das Gebiet eines ehemaligen Zwangsarbeiterlagers, das sein Vater, Besitzer eines großen Werkes, eingerichtet hat. Der unsichtbare Vater züchtigt auf ganz eigene Weise seinen Sohn durch das ganze Buch. Er ist nicht da, gefallen im Krieg, sagt die Mutter und schweigt. Auch Mitschüler und Lehrer wissen mehr als er, aber was, das erfährt Konstantin nicht. Er und sein Bruder leben jahrelang mit Andeutungen. Der zwei Jahre ältere Bruder forscht auf eigene Faust und sieht sich in der Rolle des Nachfolgers seines Vaters. Besitzer eines Gummiwerkes, nun BUNA, der größte Arbeitgeber im Ort. "Wir waren einmal reich", sagt der 12-jährige Bruder am kargen Abendbrottisch – und er habe nicht mal ein Fahrrad. Und dass der Vater im Krieg gefallen sei, stimme nicht, die Polen hätten ihn gehenkt. – Weil er ein Kriegsverbrecher war, antwortete die Mutter. Deshalb hatte sie auch den Familiennamen ändern lassen, damit die Kinder nicht belastet würden.
Der kleinere Bruder, Konstantin, fasst einen Entschluss: so bald es geht aus dieser Stadt raus, so weit weg wie es geht. Weg vom untoten Vater. Er schlägt sich im Alter von 14 Jahren über die grüne Grenze und verschiedene Aufnahmelager zur Fremdenlegion nach Marseille durch; dort wird er ausgelacht. Das größte Kapital, das seine Mutter ihm mitgegeben konnte, sind seine Kenntnisse in vier Sprachen. Als Übersetzer einer Freundesgruppe, die im Krieg der Resistance angehörte, kann er seinen Lebensunterhalt verdienen. Sie betrachten ihn als jungen Freund, er habe sie wieder mit Deutschland versöhnt. Das geht gut, bis er in einem Buch über die vier Franzosen das Bild seines Vaters zu erkennen meint. Er flieht zurück, unmittelbar nach dem Mauerbau zurück in die DDR. Was er nun auch fortan macht, der Kriegsverbrechervater ist vor ihm da, ist in seine Kaderakte einbetoniert und verwehrt ihm den weiteren Weg. Dabei ist er ein begabter Bursche, mit seinen Sprachkenntnissen, die ihm in der DDR allerdings nicht viel nützen, und mit seinem Willen, selbst auf die Beine zu kommen. Auch hat er stets geneigte Förderer – ein Glückskind eben. Das "Glückskind" bezieht sich jedoch eigentlich darauf, dass die Mutter im Mai 1945 von den Russen in Sippenhaftung für ihren Mann geradestehen sollte. Doch ihr dicker Bauch rettete sie vor dem Zugriff. Also bezieht sich das Glückskind im Grunde auf die Mutter, sie hatte Glück, dass sie mit diesem Kind hochschwanger war. Die Beziehung zur Mutter bleibt kühl, obgleich beide die Überzeugung verbindet, dass ihr Mann und sein Vater ein Kriegsverbrecher war. Der Bruder dagegen folgt der Gesinnung des Onkels, der von einem westdeutschen Gericht feststellen ließ: die Hinrichtung seines Bruders durch die polnische Heimatarmee sei Unrecht und Siegerjustiz. Nach der Wende lehnt Konstantin die Restitutionsansprüche auf die Firma ab und sein Bruder wird endlich steinreich.
Es ist also eine Familiengeschichte über sechs Jahrzehnte. Schwerpunkt sind allerdings die zwei Jahre der Marseiller Zeit, sie nehmen mehr als die Hälfte des Buches ein. Dann kommen in chronologischer Kürze die Stationen, wo Konstantins Vorankommen immer wieder gestoppt wird, der Kriegsverbrechervater war jedes Mal vor ihm da. Der Fakt, dass er immer der Beste, der Fleißigste ist, wirkt im Laufe der Geschichte aufdringlich, wäre aber damit zu erklären, dass Konstantin seinen Weg unbedingt gehen will. Aber dass man an einer Filmhochschule als Szenarist (Drehbuchschreiber) lediglich mit Kenntnissen in Filmgeschichte ankommt, will mir nicht einleuchten. Auch, dass der Protagonist überhaupt auf einmal schreibt, obwohl er sich vorher nie dazu hingezogen fühlte, ist nicht nachvollziehbar. Nicht verwechselt sollte dies mit dem Fakt werden, dass Studienplätze mäßig begabten Kindern der SED-Nomenklatura vorbehalten sind, was Hein auch erzählt. Sein Held bekommt trotz bestandener Eignungsprüfung den Studienplatz nicht, der Vater in der Kaderakte verwehrt ihm das. Dennoch schafft er es schließlich mit ein paar Umwegen und viel Ehrgeiz bis zum Schuldirektor.
Hein verweist in einer Vorbemerkung auf die Authentizität der Vorkommnisse und darauf, dass die Personen der Handlung nicht frei erfunden seien. Das fordert einen erhöhten Respekt ein. Doch diesen Respekt ist Hein auch seinem Roman schuldig. Redundanzen ermüden. Die Schwarz-Weiß-Zeichnung der Brüder ist unerträglich. Die Leidensgestalt der Mutter: ohne Widersprüche, ohne jede Spannung. Die Geschichte der jungen Frau Konstantins, die mit ihrer Tochter bei deren Geburt stirbt, ist dürr und grenzt an Kitsch.
Christoph Hein ist mehr Chronist als Sprachkünstler. Oft werden Handlungen und Dialoge bis ins Kleinste wiedergegeben, das macht das Lesen zur Durchhalteübung, kaum würzt eine Messespitze Humor die spröde Sprache. Es ist schade, denn die Rahmenhandlung verspricht so viel: Der alte Konstantin erhält einen Brief vom Finanzamt auf seinen früheren Namen, den Namen des Kriegsverbrechers. Noch als Rentner wird er von seinem Vater verfolgt. Ein spannender Beginn, auf den dann eine lange Geschichte folgt, die in ihrer Gesamtheit wirkt wie die Birken auf dem Cover: überdehnt und blass.
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