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Kritik

im nichts hausen

oder wie man mit Sprache Landschaften ausliest
Hamburg

Christoph Wenzels Gedichte, die vor kurzem unter dem Titel lidschluss vorbildlich editiert im Wiener Korrespondenzen-Verlag erschienen sind, versetzen die LeserInnen in eine Landschaft, die dem Autor sichtbar nicht nur tief in den Knochen sitzt, sondern deren Verwerfungen und verborgener Text er auch wie ein Archäologe, Landschaftshistoriker, Chronist und Ethnologe, aber schließlich doch als Poet auszulesen vermag. Nordrhein-Westfalen heißt die Region, die tief im Zentrum der ersten Hälfte des insgesamt aus sechs Gedichtzyklen bestehenden Bandes steht, die ca. 30 Gedichte umfasst.

Hamm-Uentrop, Rhyner, Herne sind bewusst gesetzte landschaftliche Marker, die dem in Österreich beheimateten Rezensenten so fern und fremd klingen wie Dörfer aus der italienischen oder französischen Provinz. Der Eingangszyklus nummernschilder versammelt diverse Westfalia, während die nachfolgenden Zyklen das schwarzbuch die farbfotos sowie der boden unter den füßen leicht verblichene und dennoch sonore Polaroids aus dem rheinischen Braunkohlenrevier liefern.

Der Mensch in der Landschaft und die Landschaft im Menschen sind bei Wenzel Programm ‒ auch in den folgenden beiden Zyklen: radioaktive wölfe und fundbüro. Nur sleep.exe, mit dem der Band abschließt, verortet sich im Niemandsland des Schlafes. In Zeiten der globalisierten Unrast nötigt Wenzels Insistieren darauf, wo einer herkommt, was nicht nur ein ansatz, ursprung ist, sondern auch eine Kraft, die etwas mit einem macht, allein schon wegen seiner Konsequenz Respekt ab.

Bezeichnend für die zugrundeliegende poetische Haltung Wenzels ist der Sprechort, von dem die Gedichte ihren Ausgang nehmen. Zwar weisen ihn die Beobachtungen und festgehaltenen Erinnerungen als tief vertraut mit Landschaft, Personal und lokaler Sprache aus, ein Ich sucht man aber vergeblich. Das gelegentlich vorkommende Wir kann den Autor einschließen, muss es aber nicht. Auch das ist Programm, denn als Chronist, wie er sich (wenn man das wir inklusive setzt) am Ende der Litanei wir sind das fundbüro bezeichnet, ist er auf objektivierende Distanz bedacht. Man könnte seine Haltung vielleicht mit einem Terminus aus dem Methodenkoffer der Ethnologie als teilnehmende Beobachtung bezeichnen, die es ihm etwa erlaubt, die deformierenden Kräfte der Landschaft am eingeborenen Körper abzulesen.

wo genau liegt hartspann, dieses dorf im gelände?
zwischen zufahrtsstraße, wirbelsäule, schulterblatt,

von hier aus blickt man: auf den schongang
verspannter landschaften, die haltungsschäden
der krüppelkiefern.

So hebt das erste Gedicht des Bandes poetisch überzeugend an, indem es Landschaft und Organismus geschickt zu einer Diagnose verflechtet, die erschreckender nicht sein könnte, wenn nicht der humorvolle Grundton und die Aussicht auf physiotherapeuten, die das dorf einrenken, das Gedicht auf den temperierten Schlusssatz das ist hartspann, das dorf, die schlichte diagnose herunterkühlten. Damit ist er weit von dem blutgetränkten katholischen Kreuz entfernt, auf das etwa die Dorfbewohner in den Büchern des Kärnters Josef Winkler gespannt sind, um einen österreichischen Chronisten der jüngeren Zeitgeschichte zu nennen.

die jäusten ziehen hektisch an den zichten, wie bitte? Ich klappe das Buch zu, betrachte das hellgrüne minimalistische Cover noch einmal, um mich zu vergewissern, ob ich tatsächlich ein deutschsprachiges Buch in der Hand halte. Nein, so setzt das Gedicht spielplatz, abends, am kamp ein. Zum Glück gibt es ein westfälisches Sprachlexikon im Internet, das mich darüber aufklärt, dass ein Jaust ein Bengel oder Lausbub ist und mit Zichten Zigaretten gemeint sind. Was kamp ist, konnte ich trotz ausführlicher Recherchen bis jetzt nicht ermitteln, bin aber für Hinweise dankbar. Der Autor lässt die LeserInnen nicht immer dumm sterben, sondern liefert in seinen dreiseitigen Anmerkungen zu den Gedichten nicht nur gelegentlich dringlich benötigte lexikalische Hilfe, sondern auch die Herkunft eingestreuter Textpassagen anderer westfälischer AutorInnen wie Droste-Hülsoff, Ernst Meister oder Jürgen Becker sowie Hintergründe zum Ursprung des einen oder anderen Zyklus.

Was könnte Literatur fester in einer Landschaft verankern, als das Idiom, das dort gesprochen wird. Es ist daher nur konsequent, dass Wenzel auch auf AutorInnen Bezug nimmt, die selbst aus dieser Landschaft heraus geschrieben haben. Das führt bei Wenzel gelegentlich zu einer Art Re-écriture, die man auch als kritische Form der Aneignung von Tradition verstehen kann, um seiner eigenen Stimme Geltung zu verschaffen. Eindringlich gelungen ist das im Gedicht im nichts hausen die fliegen, das wie im Motto ausgewiesen, auf die Anfangszeile von Ernst Meisters Poem Monolog des Menschen Bezug nimmt, die lautet: Im Nichts hausen die Fragen. Wenzel holt Meisters existenzschweren Satz aus dem metaphysischen Reflexionsraum in die handfeste Wirklichkeit, verortet das Nichts in einer ins geschichtliche Abseits geratenen Landschaft, denn er setzt fort:

in der schänke im nichts hängen augenblaue
pflaumen im schnaps im nichts sucht man nach
erben für die großen streuobstwiesen und findet
nichts als kartoffelbauern und landflucht

Dabei begegnet er Meisters todesnaher Diktion auch mit dem für ihn charakteristischen Humor, etwa wenn er bemerkt, dass hier schon der zweite stock an den wolken kratzt. Was aber schwerer lastet als die Perspektivenlosigkeit des Landstrichs, ist die verbreitete Sprachlosigkeit: im nichts/ trägt man ohnehin sein herz unter der zunge/ also bitte bitte: sagen sie jetzt nichts. Der scherzhafte Ausklang täuscht darüber hinweg, dass es in den Gedichten Wenzels und seiner konsequenten Traditionsaneignung auch um Sprachfindung gehen könnte, um das Ringen eines Subjekts, eine lebbare Distanz zum bedrückenden Herkommen, an dem man doch hängt, herzustellen, die ein Sprechen erst ermöglicht.

Und diese Distanz und Haltung scheint die eines Chronisten post festum zu sein, wie er sie in den beiden Zyklen das schwarzbuch die farbfotos und der boden unter den füßen mit insgesamt 18 Gedichten einnimmt. Beide Zyklen versammeln angegilbte Collagen aus dem Alltag der Kumpels und ihrer Familien im Braunkohlenrevier, eine von allgegenwärtigem Kohlestaub, Fußball, Krankheit, Taubenzucht, falschen Hoffnungen und Alkohol imprägnierte Zeit, die mit den Neunzigern untergegangen ist. Zur Sprache kommt eine von Bergbau und Industrie geprägte Lebenswelt, dessen charakteristische Wortfelder der Autor noch einmal auf seine Aufnahmen bannt und so zum Leuchten bringt. Da ist etwa vom Sauberjungen die Rede, einem schmächtigen Heranwachsenden, den man für Handreichungen in den Gruben einsetzte, vom Arschleder, das den Hosenboden des Bergmanns vor dem Durchscheuern schützte oder vom Pitter, dem Schrott- und Lumpensammler. Wie ein Leitmotiv durchzieht der jeden jahreszeitlichen Wandel überdeckende Ruß die acht bis zehnzeiligen Ansichten, der im schlotschatten (...) das graugemüse (...) verkohlt und sich unaufhaltsam in den Lungen einnistet.

Nicht überraschend, dass der Landschaftschronist Wenzel von der gespenstischen Atmosphäre in der Sperrzone um Tschernobyl nach der Reaktorkatastrophe angezogen wird. Grundlage der Gedichte ist aber nicht die eigene Anschauung sondern wie vermerkt der Dokumentarfilm „Radioaktive Wölfe“ von Klaus Feichtenberger aus dem Jahr 2011. Und darin liegt auch das poetische Risiko, das der Autor hier, nicht immer zu seinen eigenen Gunsten, eingegangen ist. Wenn man die gelungenen Anfangszeilen des ersten Gedichts des zehnteiligen Zyklus

grundschüler, jungwölfe, instabile kerne, wie
sie brannten darauf, raus ins kraut zu schießen

mit folgenden Zeilen etwa aus dem IV. Gedicht vergleicht

die dünnbesiedelten gebiet: evakuiert sind die kind-
heiten zu hause, die geisterdörfer um den reaktor
freiluftmuseen, der wald, die alten ängste der menschen
vorm wolf.

so wird sofort deutlich, wie sehr im ersten Zitat die Erfahrung mit dem eigenen oder fremden Schülersein zu einer zugespitzten und treffenden Metaphernbildung führte, während im zweiten Zitat Gemeinplätze vorherrschen, wie man sie jedem Film oder Artikel zu Tschernobyl zu entnehmen vermag, die auch von den evakuierten kindheiten nicht poetisch animiert werden können. Dennoch bietet der Zyklus immer wieder auch gelungene Passagen, ohne sich aus dem skizzierten Dilemma wirklich emanzipieren und zu einer durchgängig triftigen Sprache finden zu können.

 

 

Eine für Wenzels Schreiben charakteristische Schreibbewegung ist die Kurzschließung höchst unterschiedlicher Gegenstandsbereiche zur Herstellung eines poetischen Mehrwerts. Beispielhaft vorgeführt etwa in dem Gedicht wir brauchen speicherplätze aus dem Zyklus fundbüro, das auf den Anlass für den ganzen Zyklus, nämlich den Fund eines unterirdischen Kanalsystems und 21000 Scherben aus der Barockzeit bezugnimmt. Der Autor schließt in dem Gedicht die Sprache digitaler Speicherung mit der Aufbewahrungsproblematik der archäologischen Fundstücke kurz und kommt dabei zu überraschenden Wendungen wie ein splitscreen ist das bruchstück/einer fensterscheibe. Diese virtuose Verquickung zweier sehr entfernter Wirklichkeitsbereiche, die im italienischen Barock unter dem Terminus concetto beliebt war, sollte durch seine Überraschungswirkung nicht nur das Ingenium des Autors ausstellen, sondern auch auf einprägsame Weise neue Einsichten ermöglichen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Verse hier das zweite erreichen und wie diese Einsichten zu bestimmen wären. Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: Sind unsere augen wirklich speicherplätze, optische datenträger? Und wenn ja, wozu brauchen wir dann noch das Gehirn zum Sehen und Erinnern?

Ähnliche Vorbehalte in Bezug auf das Gelingen des poetischen Vorhabens habe ich auch bei sleep.exe, das sich ebenfalls einer modisch gewordenen Flutung des Textes mit technoidem Vokabular bedient, das menschliches Wahrnehmen, Denken und Handeln in Maschinensprache übersetzt, ohne dass das eigene Klischee (wie oft wird heute beispielsweise in Gedichten etwas gescannt, wenn ein Blick gemeint ist) in Sicht kommt oder nach dem Aussagewert des überraschenden Vergleichs gefragt wird. Hier wäre ein strenges Lektorat gefordert gewesen, das den Autor wieder auf die Höhen führt, die er durchaus zu beschreiten vermag, wie er beeindruckend in der ersten Hälfte des Bandes zeigt.

Um es auf den Punkt zu bringen: Ich folgte Wenzel gerne in die rheinländisch-westfälische Provinz, die er mir als Außenstehenden mit eindringlichen poetischen Mitteln aufzuschließen vermag, setzte mich gern seinen von Erinnerungssplittern verursachten lidschlüssen aus und fühle mich dadurch angeregt und bereichert. Die radioaktiven Wölfe und das Schlafprogramm würden hingegen ein Purgatorium vertragen, aus dem sie dann umso strahlender hervortreten könnten. Selbst wenn sich in den ins geschichtliche Abseits triftenden Landstrichen nicht nur die Lider schließen sondern auch doppelsinnig mit den Liedern Schluss ist, freue ich mich auf neue Lieder des Autors.

Christoph Wenzel
lidschluss
Edition Korrespondenzen
2015 · 96 Seiten · 17,50 Euro
ISBN:
978-3-902951-15-1

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