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Kritik

Der größte Verlierer eines verlorenen Landes

Cormac McCarthys Ein Kind Gottes erstmals auf Deutsch
Hamburg

„Sein Herz wurde herausgenommen. Seine Eingeweide wurden herausgezogen und präzise beschrieben, und vielleicht sahen die vier jungen Studenten, die sich wie ehedem die Haruspizes darüber beugten, in den Anordnungen der Innereien künftige, noch schlimmere Ungeheuer voraus.“

Es ist eine gewisse Ratlosigkeit, die in diesen Sätzen nachhallt und sie durchzieht Cormac McCarthys Ein Kind Gottes fast vollständig. Sein Protagonist Lester Ballard ist 27 Jahre alt und lebt im Nirgendwo von Tennessee. Er hat beide Eltern und das Stück Land verloren, auf dem er aufwuchs. Von der Gesellschaft weitgehend verstoßen, führt ein einsames und zielloses Leben in einer verlassenen Hütte, bis diese abbrennt. Als kauziger Höhlenbewohner, meist in murmelnde Selbstgespräche vertieft, geht er mit seinem Gewehr als treuesten Begleiter bald nicht mehr nur auf Eichhörnchenjagd. Ballard, der sich zunehmend nach Liebe und Sex sehnt, hat es auf Frauen abgesehen, denen er sich nur auf eine Art nähern kann. Es dauert nicht lange, bis er sich einen regelrechten Harem aus schönen Toten erbeutet hat.

In McCarthys Roman, der bereits 1974 erschien und nun endlich auch auf Deutsch zu lesen ist, sind viele Themen bereits voll ausgeprägt, denen er sich in späteren Werken immer wieder variantenreich widmete. Mit seinem poetischen Minimalismus beschreibt McCarthy die Verrohung und Perspektivlosigkeit des sogenannten „White trash“ der Südstaaten, vor allem aber eine radikale Outlaw-Existenz, die ihre Ziele und Sehnsüchte nur durch Brutalität zu erreichen glaubt. Auffällig ist hierbei vor allem die Empathielosigkeit von McCarthys Erzähler, der, ähnlich wie in No Country for Old Men, vollständig auf Psychologisierungen verzichtet. Ballards Leben wird somit nicht zum „Fall“, sondern zu einer schonungslosen Abbildung, die den Leser mit vielen unangenehmen Fragen allein lässt. Fragen, die weit über die Taten des Protagonisten hinausgehen. Was macht einen Menschen aus und wann hört er auf Mensch zu sein?

McCarthy setzt in seinem Roman stark auf den Leser, von dem er weiß, dass das Grauen ihn nicht nur abstößt, sondern auch fasziniert. Eine Neugier, mit der der Autor zu spielen weiß und Szenen gern dort Enden lässt, wo ein ekelerregender Voyeurismus befriedigt werden könnte. Ein Verfahren, das dazu führt, die lineare Erzählweise immer wieder zu unterbrechen, um in kurzen, überaus dichten Episoden die Welt zu schildern, der Ballard längst nicht mehr angehört.

Die von Kleinstadtbewohnern, Gemischtwarenhändlern, Schrottplatzbesitzern und Deputies geprägten  Nebenschauplätze verdeutlichen, welchen Einfluss McCarthy auf die nordamerikanische Literatur hatte und immer noch hat. So fühlt man sich beim Lesen von Ein Kind Gottes nicht nur des Titel wegen oft an Denis Johnsons Jesus Son (1992) erinnert, oder auch an Donald Ray Pollocks Knockemstiff (2008). Beides Erzählsammlungen, die in bester McCarthy-Manier von der brutalen Tristesse des amerikanischen Provinzlebens erzählen, sodass man manchmal versucht ist Phänomene wie den Waffenkult eben daraus zu erklären.

Und so erzählt Ein Kind Gottes eben nicht nur die Geschichte Lester Ballards, sondern auch einiges aus der Geschichte dieses großen traurigen Landes, in dem nach Flutkatastrophen zuerst geplündert und dann geholfen wird. „Glauben Sie, die Menschen waren damals schlechter als heute?, sagte der Deputy. Der Alte blickte auf die überschwemmte Stadt hinaus. Nein, sagte er, glaub ich nicht. Ich glaube, die Menschen sind immer die gleichen gewesen, seit Gott den ersten geschaffen hat.“

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Verbrechen des Protagonisten fast schon folgerichtig und man stellt sich unweigerlich die Frage nach der Mitschuld der Gesellschaft. Und ob Ballard nicht einfach nur der größte Verlierer eines verlorenen Landstrichs ist.

Corman Mc Carthy
Ein Kind Gottes
Übersetzung: Nikolaus Stingl
Rowohlt
2014 · 192 Seiten · 12,99 Euro
ISBN:
978-3-499-26799-4

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