Brief an den Vater
„Brief Under Water“ ist laut Verlagsseite der Burning Deck Publishers, bei denen es 2008 erschien, eine phonetische Titelreverenz an Kafkas „Brief an den Vater“. Cyrus Consoles Gedichtband, der hier in der Herbstveröffentlichung der Brueterich Press besprochen wird, ist mit einem Wort: schwierig. Gemäß des bekannten Mottos „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis“, passt Consoles Band perfekt ins Programm. Die Gedichte in „Brief Under Water“ sind zweisprachig abgedruckt, Deutsch in der Übersetzung von insgesamt 18 verschiedenen ÜbersetzerInnen. Sie sind dem Genre Prosagedicht zugehörig und nehmen wenig Raum auf dem weißen, schweren Papier ein. An den Seitenrändern, symmetrisch und mittig nimmt eine binäre Zählung, also 0 oder I, im Verlauf des Buches zu. Sie bildet auch den genetischen Gestaltcode des Covers, allerdings in vertikale Kolonnen multipliziert. Auf diese Weise wirkt die Gestaltung wie ein 60er Jahre-Kursprodukt aus Ulm, in Max Bense-Manier. Was den Ton der komplexen Gedichte unterstützt. Denn das Zählen an sich, auch mit primitivsten Methoden, ist schließlich elementar, zwangsläufig und unaufhaltbar. Etwas tickt, etwas Messbares – Wissenschaft und Technik als irreduzible Zeugen und spartanischer Chor/ Begleiter einer emotionalen Wolke, die in der Lyrik ihren Ausdruck sucht. Zudem ergibt sich durch die 0 auf dem Cover eine mehrgestalte Lesbarkeit als Atem oder Luftblasen unter Wasser etc.
Der „Brief an den Vater“, kanonischer Typus einer literarischen Verarbeitung von „Hilfe!!!“, wird durch das lyrische Ich in „Brief Under Water“ beschworen bzw. neu verhandelt. Die Abfolge der Einzelgedichte besitzt keine Reihenfolge, kein Narrativ oder Zäsuren. Sie gehen hierhin und dorthin, wie ein Fluss vielleicht, unvorhersehbar und stetig bergab. Der Ton ist, neben einer starken Detailverliebtheit, geradezu depressiv. Deprimierend. Traurig. Schwer verdaulich bisweilen. Etwas typisch Amerikanisches mischt sich in Begriffen, Bildern und Produkten oder Fachtermini. Entfernt erinnert dieser Duktus an die Prosa eines David Foster Wallace, gänzlich befreit von dessen Fußnotenobsession. Aufgebrochen immer wieder von absurden Wortstellungen, Verzicht auf korrekte Satzzeichenanwendung (Fragesätze haben einen (Aussage-) Punkt) und das Einschmuggeln seltener Wörter (die Texte wie ein Fundgebiet Seltener Erden) und Vokabular/ Redewendungen eines Ancient English, vielleicht aus dem Zeitalter der Metaphysical Poets oder früher. Einige Passagen sind kursiviert. Wiederkehrenden Elemente sind Wasser, Fluss und Eis, das Gefangen-sein, das Vielleicht-gemacht-haben, Leider-unterlassen-haben, Häuser, Kühlschränke, Fernsehen, Bruder, Frau, Handwerker, Feierabend, Unfälle und Sehnsucht nach Meer, Dünen, Hügeln und später in zunehmendem Maße das Abheben und das Wesen eines Ballons, eines Zeppelins, Kolosses und Fettsack. Diese Begriffswandlung ist im Zuge der Entscheidung entstanden, ein Übersetzerkollektiv mit der Übertragung zu beauftragen. Das ist spannend, witzig und an dieser zentralen Stelle auch gewinnbringend. Ansonsten bleibt allerdings bei genauer Lektüre des, wie gesagt schwierigen, weil schwierig fassbaren, Originaltextes festzustellen, dass nicht alle Übersetzungen ins Schwarze treffen. Sondern wo Console eine durchgehende, witzigerweise sowohl ruhige, morbide als auch flatternde, wahnsitzige Stimmung erzeugt, die sich nicht festlegen will, aber stets effizient und vor allem seriös arbeitet, bei einigen Übersetzungen in hinzuerfundenen Flapsigkeiten schwelgende Texte entstehen, die über unnötige „irgendwies“ und „irgendeiners“ und unmotivierte Übersetzungsverschiebungen eines Wortes in derselben Zeile Consoles strenges, unverwechselbares Original zu einer Art hippiesken Verklärung tragen, die hier nicht angebracht scheint. Das gilt insbesondere für den Anfang und einige Ausreißern auf halber Strecke. Der Großteil der Lyrik ist jedoch in all seinen Problematiken hervorragend erfasst und übertragen worden. „Brief Under Water“ ist ein verstörender Zyklus, sprachlich verführerisch und dann plötzlich unverständlich bis schmerzvoll sensibel, ein Sprechen, das Kindlichkeit mit Erwachsenenblick verbindet zu einer sich gegenseitig aushebelnden Gedankenmetastase.
„I0I
FOR a number of months, a number, as it were, between one and ten, I returned to this place, where I busied myself, see above, and knew my means dwindled, though I took care not to discover when or how they would away. I put down the little volume to look for a few moments at the corner where my shoes lay, to glance at a length of cord I must have picked up in the street. Rising from my chair I took six steps, for example, in the direction of the medicine cabinet. Again, the length of the cord, the insolent length of cord. Cherry, I reflected, taking a gorgeous draught. I put my forehead to the spacebar to see if I would cry.”
„I000
SO was wie Herzschmerz ist mir bekannt, aber da enden unsere Gemeinsamkeiten auch schon. Ich habe keine Hobbies. Auch keine Zimmerpflanzen. Mein Bett sitzt den Tag in seinem Zimmer ab wie ein Einzelkind. Diese Befürchtungen, die du die Bedeutung guter exekutiver Funktion zitierend, kurz nach meiner Geburt zusammen mit deiner Puppe und einem Foto von Jeepers begraben hast, erlaube ich mir hier noch einmal aufzugreifen, trage sie vor dir zusammen wie ein Puzzle, dessen Lösung die Verwerfung zahlreicher Teile erfordert hat. Ein Bild, das du sehen solltest, hat Gestalt angenommen, beginnt hier, wie die Dämmerung, in den Ecken. Die ganze Nacht, verstehst du, hat der Hund seinen Bruder gejagt. Ich musste mein eigener eingebildeter Freund sein.“
„I0I0
OFTEN it seems to me I am permitted to return to these good times, which cast long shadows toward me in the snow, in the rea-colored light of that part of the mind, and it comforts me that their numbers can never decrease. Yet my memory is poor. Its episodes bleed from their contours, investing each other with terror.
Thus when I am permitted to return, it is to a hilltop I have never seen, where a terrier takes corners on the grass, shoulder and jowl to the earth; to a complex of beams in the heights of a warehouse whose angles speak to me: Say not thou, what is the cause that the former days were better than these? On the last warm night my little airplane leaves the sky.”
„IIII0
MÄNNER spazieren im All, um Himmels Willen. Die neue Kamera wird Bilder vom äußersten Rand des Universums machen. Sie wird, den Astronomen zufolge, zehnmal besser sein als die alte. Der Astronaut verflucht sich. Er kann nicht aufhören, sich Sorgen um seine neue Frau zu machen.
Mein Ehemann liegt unfassbar fern. In der Geschichte der Ehe hat noch niemand so schnell und so vollständig das Feld geräumt. Der Handwerker geht um die Ecke; ich kann ihn durch das Fenster nicht mehr beobachten. Danach ist nichts mehr wie es einmal war. Es ist genau so, wie es immer gewesen ist. Die Rinne will gereinigt werden. Das Regenwasser fällt wie ein Vorhang vom Haus.“
Cyrus Console - 4 poems from THE ODICY from Cyrus Console on Vimeo.
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